Hochprozentig
Vodka, so der Titel des Thrillers von Boris Starling, ist nicht nur ein Gesöff, das immer und in großen Mengen konsumiert wird, Wodka ist die einzig stabile Währung, Geldanlage, Heil- und Schmiermittel, Droge und hier zugleich Metapher. Ein Roman, der sich ein bisschen nach Martin Cruz-Smith anhört … Aber Lena Blaudez, die zur Zeit der Handlung in Russland gelebt hat, erkennt vieles wieder.
Moskau, Ende 1991, die Sowjetunion hat aufgehört zu existieren. Es herrscht Chaos, das Finanzsystem liegt am Boden. Mit Schmuggel und Spekulationen lassen sich allerdings Reichtümer anhäufen. Vor allem ein Produkt ist profitabel: Wodka. Profitabel wie Diamanten. Denn wer den Wodka kontrolliert, kontrolliert Russland, so lautet ein altes Sprichwort. Lew, der mächtige Mafiaboss, ist zugleich der Leiter der größten staatlichen Brennerei des Landes „Roter Oktober“. Auf eine offiziell abgefüllte Flasche Wodka kommt eine gewinnträchtige, illegal gehandelte. Die herrschenden Mafiagangs tun sich unter Lews Führung zusammen, um sich in dem entstandenen Machtvakuum die Gewinne aus Schmuggel und Schutzgeldern zu sichern und den gemeinsamen Feind, die Tschetschenenmafia, zu zerschlagen. In dem nun folgenden Kampf um Markt, Macht und Moneten geht es ziemlich gnadenlos zu.
Jagd auf Roter Oktober
Der finstere Boss der Tschetschenenmafia Karkadann will Lew die Brennerei abnehmen, der gewandte Reformer und Moskauer Bürgermeister Arkin will sie als Vorzeigemodell privatisieren und Premierminister werden. Der üble Ex-KGBler Sabirschan, der für sein Leben gern foltert, ist Lews rechte Hand in der Destillerie. Eine explosive Mischung, in die nun die clevere Alice Lidell, amerikanische Bankerin und Beraterin des IWF hineinplatzt, die die Privatisierung von „Roter Oktober“ vorbereiten soll. Sie verfällt nicht nur der Stadt Moskau und dem attraktiven Lew, sondern auch dem Wodka.
Die Details des Moskauer Alltagslebens in dieser Zeit, beherrscht vom Schlangestehen und Mangel an allem, sind hervorragend beschrieben. Das haarsträubende, elende Umfeld der sich irgendwie durchschlagenden Leute, die vorherrschende korrupte Realpolitik mit alten Seilschaften im Parlament und die strenge Zweiklassengesellschaft (mit oder ohne Dollar) sind in ihrer ganzen Absurdität realistisch und genau auf den Punkt gebracht.
Juku Irk, übrigens aus Estland, leitender Ermittler bei der Moskauer Staatsanwaltschaft, mit dem Aussehen eines Gelehrten, ist eine große Ermittler-Figur mit Tiefgang. Auf der Suche nach dem Mörder eines Kindes muss er sich nicht nur mit dem eklatanten Mangel an Ausstattung bei der Polizei herumschlagen. Alle Dienstwagen sind kaputt oder belegt, er fährt mit der Metro, von DNA-Analysen kann er nur träumen und Fingerabdrücke durch die Datenbank zu jagen, ist nun ganz und gar unmöglich. Obendrein muss er sich mit seinen persönlichen Problemen, der Ohmacht gegenüber dem Leben der Straßen- und Drogenkids, dem maroden Bürokratieapparat, den diversen Politikern und der Mafia arrangieren. Der Kindermord entpuppt sich bald als Tat eines Serienmörders, der es auf Waisenkinder abgesehen hat. Straßenkinder sind im Moskau dieser Tage eine ebenso alltägliche Erscheinung wie leichte Beute.
Alice im russischen Wunderland
Alice steht zwischen ihrem Ehemann, der die Zeit als Arzt an einem Moskauer Krankenhaus überbrückt, bis er endlich wieder nach Boston kann, sowie der abgehobenen Community der ExPats und ihrem Geliebten Lew. Zwischen ihrem geschäftlichen Gegner Lew und der Privatisierung und auch noch den Informationen über die Machenschaften von „Roter Oktober“, auf die sie stößt. Und sie trinkt wie ein Russe. Von ihrer Alkoholabhängigkeit kann sie sich nur dank Lews Hilfe befreien. Übrigens sind die Nuancen der unterschiedlichen Wodkasorten so fein wie aus einem Gourmetführer beschrieben, dass man sie sofort allesamt probieren will, Sucht hin oder her. Alice ist in einem rationalen und emotionalen Irrgarten gelandet und schlägt sich, im Bedarfsfall auch kniescheibenbrechend, durchs Leben.
Robin Hood als Mafiaboss
Der ganzkörper-tätowierte Zweimetermann Lew ist ein charismatischer Gangster mit Ehrenkodex, ein machtbewusster Geschäftsmann und ein krimineller Romantiker. „Roter Oktober“, also er, führt eine Schule und seine Mafiaorganisation das zugehörige Waisenhaus. Lew ist ein fürsorglicher Unterstützer der Waisenkinder, die er als seine Kinder betrachtet. Und nicht zuletzt ist er ein wunderbarer Liebhaber und aufmerksamer Partner. Der Mafiaboss wird so zum menschlichen Kontrapunkt zu machthungrigen Politikern, brutalen KGBlern und einer allgegenwärtigen menschenfeindlichen Bürokratie in einem von Verfall und Gier diktierten anarchischen Umfeld.
Nachdem der Boss der Tschetschenenmafia Karkadann gezwungenermaßen seine als Geiseln genommene Frau und sein Kind erschossen hat – damit Lew keine Macht mehr über ihn besitzt – schwört er blutige Rache. Folterknecht Sabirschan ködert derweil seine kleinen Lieblinge aus dem Waisenhaus mit Geschenken. Der liebevolle beinlose Afghanistan-Veteran Rodin ist Fußballtrainer der Kinder und doch ganz anders als geahnt. Juku Irk isst in seltenen glücklichen Stunden mit dessen Familie, seinen einzigen Freunden, Hühnerschlegel aus den USA, genannt Bush-Beine. Und wir haben keine Zeit, weil wir die nächste Seite umblättern müssen.
Starling erzählt emphatisch und detailgenau das Leben in Moskau, schreibt dabei eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, einen heißen Polit-Thriller und eine Analyse einer Gesellschaft im Umbruch.
Das alles mit steigender Spannung und ausgewogenem, sehr gut lesbarem Stil, so dass die 700 Seiten im Nu dahin sind. Das Ende ist tragisch und düster, aber mit einem Anflug von Hoffnung. Ein fesselndes und zugleich trauriges Buch, voller Skepsis gegenüber Ideologien, Bürokratien und reinem Profitstreben.
Lena Blaudez
Boris Starling: Vodka (Vodka, 2005). Roman. Ins Deutsche übersetzt von Jutta Lützeler. Ullstein Taschenbuchverlag Juni 2009. 736 Seite. 10,95 Euro.