Brachialer Balanceakt
Osama bin Laden ist das personifizierte Böse auf Erden, ein unnahbarer, entmenschlichter Stellvertreter oder gar Nachfolger des Teufels. Da erscheint es fast ein wenig despektierlich, wenn der junge britische Autor Chris Cleave seine Protagonistin ihm einen Brief mit folgenden Anfangszeilen schreiben lässt: „Lieber Osama, sie wollen dich tot oder lebendig, damit der Terror endlich aufhört. Obwohl, ich weiß nicht. Mit dem Rock’n’Roll war ja auch nicht Schluss, als Elvis auf dem Lokus starb.“
Ausgangspunkt der ganzen Geschichte ist ein bestialischer Terroranschlag beim Lokalderby von Arsenal gegen Chelsea London. Gerade spitzelt van Persie den Ball zum 2:0 für die Gastgeber ein, als eine gewaltige Explosion die gesamte Heimtribüne mitsamt Mann und kleinem Sohn der Ich-Erzählerin hinwegreißt. Diese erlebt das ganze live auf der heimischen Couch beim Seitensprung vorm Fernseher und verarbeitet diesen Schicksalsschlag nicht nur mit viel Alkohol und Tabletten, sondern eben auch mit einem Brief an Osama bin Laden.
Naiv-schnoddrige Perspektive
Aus naiv-schnoddriger Perspektive schildert sie ihm auf Augenhöhe, was dieser Terroranschlag mit ihr ganz persönlich angestellt hat und wie London zugleich von einer Paranoia erfasst und zur Festung mit Ausgehsperren und staatlichen Willkürakten ausgebaut wird. Durch alle Tiefen hindurch und trotz aller Schwächen und Macken erweist sie sich dabei als eine Frau, die sich dem Leben und den Menschen um sie herum auf geradezu trotzige Weise stellt: „Ich bin eine Frau, die sich auf ihren Trümmern immer neu erschafft… es war Zeit, sich wieder ins Leben zu stürzen.“
Chris Cleaves Debut ist ein temporeicher und brachialer Balanceakt, der mit allen Tabus bricht, alle nur denkbaren Widersprüche in sich vereinigt und folglich mit einer Flut von Adjektiven belegt werden kann: Er ist ebenso geschmacklos wie bitterböse und provokant, aber auch anrührend, mutig und durchaus weise. Denn auf groteske Weise offenbart er die Schwächen einer offenen Gesellschaft, die im Herz getroffen ist und ihre Werte in der Verteidigung eben dieser zu verlieren droht. Trotz mancher Fehltritte, Ausrutscher und Luftnummern ist „Lieber Osma“ ein Buch von hohem Unterhaltungswert und wirft zugleich grelle Schlaglichter auf den Zustand der westlichen Zivilisationen.
Karsten Herrmann
Chris Cleave: Lieber Osama. Aus dem Englischen von Markus Ingendaay. Rowohlt, 300 S., 17,90 Euro.