Magisches Fluidum
Eine wundervoll spleenige, herzzerreißend neurotisch und abgrundtief traurige, schräg-schöne Liebesgeschichte, findet STEFAN BEUSE.
Dem Buch Dshamilja von Tschingis Aitmatow ist ein Vorwort von Louis Aragon vorangestellt. Das Vorwort ist überschrieben mit: „Die schönste Liebesgeschichte der Welt“, und hinten, auf der Rückseite des Buches, also da, wo jeder potenzielle Buchkäufer zuerst hinguckt, um etwas über das Buch zu erfahren, steht der Satz auch, nur mit etwas mehr Nachdruck formuliert: „Ich schwöre, es ist die schönste Liebesgeschichte der Welt“ steht da. Louis Aragon.
Nun habe ich die Eigenart, in fremden Wohnungen sofort die Bücherregale durchzusehen, sobald ich mich unbeobachtet fühle. Das ist so ein Reflex, der weniger mit Neugier zu tun hat, als damit, dass es manchmal einfach interessanter ist, sich die Bücher fremder Leute anzusehen, als aus dem Fenster zu schauen.
Jedenfalls habe ich im Laufe meiner umfangreichen empirischen Studien auf diesem Gebiet festgestellt, dass das Buch Dshamilja in fast keinem Bücherregal fehlt. Selbst Leute, die nur wenig Bücher besitzen, haben irgendwo zwischen Hermann Hesse, der Möwe Jonathan, Erich Fried und den Büchern des Lucy Körner Verlags das moosgrüne Suhrkamp-Bändchen einsortiert, kaum so dick wie eine Toastscheibe, mit einem Satz auf der Rückseite, der es einem unmöglich macht, dieses Buch nicht zu kaufen. Wer will sich schon die schönste Liebesgeschichte der Welt entgehen lassen?
Mogelpackung
Um es mal diplomatisch auszudrücken: Der Satz versprach mehr, als das Buch zu halten imstande war. Die Geschichte war ganz okay, so wie es ganz okay ist, gegen Atomkraft zu sein, aber sie war Lichtjahre davon entfernt, „schönste Liebesgeschichte der Welt“ geheißen werden zu dürfen.
Während mir das Buch Dshamilja im Nachhinein als einer der größten Etikettenschwindel der Literaturgeschichte im Gedächtnis geblieben ist, kommt Chris Killen mit seinem Buch Das Vogelzimmer diesem Satz immer wieder gefährlich nahe.
Man loves woman – man loses women – man wants women back
Ein bekannter amerikanischer Drehbuchautor und Script Doctor pflegt seine Schüler nach dem gemeinsamen Genuss hochkomplexer Filme mit verschachtelten Plots händereibend zu fragen: „Okay guys, what’s the story about?“, und wenn dann die ersten strebsamen Schäfchen anfangen, die Geschichte zu sezieren und zu analysieren, unterbricht er sie gern nach fünf Minuten, um mit einer harschen Handbewegung festzustellen: „I tell you what’s the story about: Man loves women – man loses women – man wants woman back – that’s all“.
Wenn das also alles ist, geht’s darum auch in Chris Killens wundervoll spleeniger, herzzerreißend neurotischer und abgrundtief trauriger, schräg-schöner Liebesgeschichte Das Vogelzimmer. Aber auf diesen gerade mal 170 Seiten stehen Sätze, die den Himmel aufreißen lassen, die einen schluchzen machen können vor Glück.
Dieser Sprachkosmos ist durchweht von einem ganz eigenen Zauber, der einen so packt, dass die Liebesgeschichte auch auf „technischer“ Ebene funktioniert: Man kann sich als Leser ganz und gar in dieses Buch verknallen, und spätestens an dieser Stelle muss Henning Ahrens für seine Übersetzung gedankt werden, die so unglaublich gut ist, dass man froh ist, nicht den Originaltext daneben zu haben – einfach aus Angst, er könne nicht dieses magische Fluidum aufweisen, diesen sehr speziellen untergründigen Humor, diese Lebensklugheit und Größe.
Bevor Rückseitentextverfasser das nächste Mal leichtfertig etwas schwören, sollen sie bitte dieses Buch lesen.
Stefan Beuse
Chris Killen: Das Vogelzimmer (The Bird Room). Roman.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
KiWi Paperback 2009. 174 Seiten. 7,95 Euro.