Geschrieben am 28. September 2011 von für Bücher, Litmag

Christoph Hein: Weiskerns Nachlass

Es kommt noch schlimmer

– Christoph Hein schreibt in „Weiskorns Nachlass“ über das Prekäre im Leben, Carl Wilhelm Macke hat den Roman gelesen.

Der Protagonist des Romans unterrichtet an der Leipziger Universität Kulturwissenschaft. Er hat seinen 59. Geburtstag eher etwas lustlos „über sich ergehen lassen“. Überhaupt steckt der Akademiker Rüdiger Stolzenburg in einer tiefen Lebens- und Sinnkrise, weil er alle seine beruflichen und auch menschlichen Ideale als degradiert und wertlos erlebt. Es ist dabei nicht nur die in seinem Alter „normale“ Konfrontation mit den Jüngeren, Erfolgreicheren, in jeder Hinsicht Potenteren, die dem Protagonisten das Leben so schwer macht.

Es ist vor allem die Erfahrung, dass in der (deutschen) Gegenwartsgesellschaft scheinbar nur noch erfolgreich sein kann, wer sein Geld schnell und extrem risikoreich etwa über Börsen- und Immobilienspekulationen erwirbt. Wer da zum Beispiel über einen heute vergessenen Librettisten aus der Mozart-Zeit forscht, hat eigentlich keine Chance mehr im täglichen Überlebenskampf. Er fühlt sich als abgehängt vom Zug der Zeit, von dem man überhaupt nicht weiss, in welche Richtung er rast.

Die einmal in den „Roaring Sixtees“ in Westdeutschland entdeckten Ideale und Lebensutopien, sind mit den Jahren blass und blasser geworden. Und für die in Ostdeutschland aufgewachsene Generation der heute ungefähr Sechzigjährigen ist die große Euphorie der „Wende“ auch längst in einem grauen Alltagsbewältigungskampf abgeschmolzen. Nein, es steht wirklich nicht gut um diese Generation, für die der italienische Liedermacher Giorgio Gaber einmal eine Art Hymne komponiert hat: „La nostra Generazione ha perso“, unsere Generation hat verloren.

Und vielleicht hat Christoph Hein mit seinem Roman „Weiskerns Nachlass“ für diese Generation auch so etwas wie einen Schlüsselroman geschrieben. Wer Angehöriger dieser Generation ist und sich dazu auch noch in der Endzeit seiner intellektuellen Karriere irgendwo  im „akademischen Mittelbau“ befindet – oder auch da schon rausgeflogen ist – kann mit diesem Roman noch einmal so richtig eintauchen in sein Elend.

Schlüsselroman für Endfünfziger?

Hein läßt wirklich nichts aus, was seinen Protagonisten Rüdiger Stolzenburg tiefer und tiefer fallen läßt. Förderungsanträge für Forschungsvorhaben über Mozarts Librettisten Friedrich Wilhelm Weiskern werden abgelehnt. In der universitären Lehre muß er sich mit gelangweilten und verzogenen Studenten herumschlagen. Pausbäckige Studentinnen bekennen ihm dann auch noch errötend wie sehr sie ihn lieben. Auf der Strasse wird er von einer rotzfrechen Mädchengang überfallen und zusammengeschlagen.

Das Finanzamt verlangt hartnäckig und mit bürokratischer Kälte eine erkleckliche Steuernachzahlung. Er geht einem Fälscher auf den Leim, dem er für viel Geld Originaldokumente seines geliebten Weiskern abkaufen will. Artikel bringt er nicht mehr in den Zeitschriften unter. „In den Redaktionen wechselten die Leute. Seine alten Bekannten sind in Pension, eine neue Generation besetzt die entscheidenden Stühle. Junge, aufstrebende Alleskönner und Alleswisser. Mit seinem Namen können sie nichts anfangen. Die begehrten Aufträge schanzen sie ihren Vertrauten zu. Und es wird so weitergehen, weiter abwärts.“ Und dann sind da noch diverse Frauengeschichten, in denen er sich auch mit seinen eigenen Ansprüchen verheddert. Sucht er bei ihnen verlässliche Partnerinnen für die Bewältigung der diversen Alltagsmalaisen oder nur einen „One Night Stand“ – der aber auch in seinem Alter nicht mehr so gelingen will wie in jungen, potenteren Jahren.

Alles wird zu „Lebensmüll“…

Es stimmt ja leider alles an den trostlosen Schilderungen einer Generation von Akademikern, deren durch ein langes Studium und später dann Forscherleben erworbenen Qualifikationen keinerlei Wert mehr besitzen. Alles wird zu Müll, zu einem „Lebensmüll“, wie es der Protagonist des Romans schmerzhaft an sich selber beobachtet. Aber indem Christoph Hein seinen Roman so vollgestopft hat mit großen und kleinen Lebenskatastrophen, aktuellen Gesellschaftskonflikten und dann auch noch zeithistorischen Ereignissen, wird dem Leser jede Möglichkeit des reflektierenden Innehaltens genommen. Er weiss nur, daß es mit jeder neuen Seite noch schlimmer kommt mit dem bemitleidenswerten Dr. Rüdiger Stolzenburg von der Universität Leipzig.

„Das kann doch nicht alles gewesen sein“ sang Wolf Biermann einst als er noch im Kampf gegen die stalinistischen Bürokraten im Osten und die Alt-Nazis im Westen für sich und seine Generation Lebens- und Utopieziele herausschrie. Doch das war alles, muß sich jetzt Stolzenberg am Ende seines fünften Lebensjahrzehnts eingestehen. Was bleibt sind Billiardabende und Erinnerungen an eine bessere Zeit. Eine Herausgabe der Schriften seines geliebten Friedrich Wilhelm Weiskern wird es nicht geben. Aber – seien wir ehrlich – wer ausser Stolzenberg selber wird diese Schriften vermissen?

Carl Wilhelm Macke

Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Suhrkamp Verlag 2011. 319 Seiten. 24,90 Euro.

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