Das Schreiben am Tag und in der Nacht
– Wie Claudio Magris zum Lesen verführt erklärt Carl Wilhelm Macke:
Die Unvorhersehbarkeit, so hat Claudio Magris einmal geschrieben, sei für ihn der große Reiz, wenn er sich auf Reisen begebe. Er liebe einfach das „Gewirr und die Verzweigungen der Wege, die Zufälligkeit der Aufenthalte“, die Ungewißheit am Morgen, wie und wo man den Abend verbringe.“ Wie eine Art Basso continuo durchzieht diese Definition des Reisens und des Unterwegsseins das gesamte Werk von Claudio Magris. Sogar dort, wo Magris überhaupt nicht von seinen vielen Reisen in bekannte und unbekannte Winkel der Welt berichtet, spürt man diese Liebe zum Anarchismus, zum Unerwarteten, zu den abseitigen Wegen, zu den am Rande der historischen Hauptstraßen vergessenen Menschen.
Immer wieder zitiert Magris dabei einen seiner intellektuellen Lehrer, den katholischen Theologen Karl Rahner, der das Wandern zwischen zwei Welten, das Bewegtsein und die nicht Vorhersehbarkeit des Weges als eine Grundbestimmung des Menschen ansah. „Wir gehen, wir müssen suchen“ heißt es bei Rahner. Auch in dem neuen, im italienischen Original schon seit längerer Zeit vorliegenden Buch trifft man ständig auf diesen neugierigen, auch für abseitige Autoren empfänglichen, hartnäckigen Gegner jedes literarischen Mainstreams. Wer hat zum Beispiel schon einmal etwas von Enric Marco gehört?
Marco sei, so klärt uns Magris auf, ein militanter Gegner des Faschismus und des Francismus gewesen. In seinem Buch „Erinnerungen an die Hölle“ hat Marco mit großer Leidenschaft und Detailgenauigkeit die Schrecken nazistischer Konzentrationslager geschildert, die er angeblich am eigenen Leibe erlebt hat. In der spanischen Öffentlichkeit fand dieses 1978 erschienene Buch ein beachtliches Echo. Überall, auch auf offiziellen Gedenkveranstaltungen, wurde Marco als Redner eingeladen – bis man entdeckte, dass der Autor entgegen seinen Bekenntnissen niemals in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen war. Er hat einfach nur authentische Erfahrungen von KZ-Häftlingen so genau in Worte gefasst, dass man glauben musste, er hätte das alles selbst erlebt. Schnell wurde Marco zu einer Persona non grata in der spanischen Öffentlichkeit. Er gestand, „daß er seine Biographie gefälscht hat, doch habe er das aus einem guten Grund getan: Das, wovon er berichtet habe, sei wahr, und daher sei es unwichtig, ob er es oder ein anderer erlebt habe … Das einzige, was zähle, sei doch, dass seine Lügen dazu beitrügen, die Wahrheit über die Konzentrationslager zu verbreiten, gegen die Lügen jener, die sie leugnen“.
Natürlich verurteilt auch Magris diesen Enric Marco als einen Lügner und Hochstapler, aber gleichzeitig fragt er, ob damit auch die Fakten des Grauens, von denen er in seinen Veröffentlichungen berichtet, falsch, erlogen, unglaubwürdig seien? Gegen die Leugner der Massenverbrechen verteidigt Magris einen Autor, der seine eigene Biografie erlogen hat, aber die Wahrheit geschrieben hat über das große Grauen der nazistischen Massenvernichtung.
Intellektuelle Hinwendung zum Anderen
In seinen Essays geht es Magris immer auch um die andere, bislang vielleicht wenig beachtete, oft abgelehnte oder negierte Seite eines (politischen) Konflikts oder die für andere unsichtbaren dunklen Flecken in der Lebensgeschichte eines Menschen. Er will wissen, was sich jeweils auf der anderen Seite der „Grenze“ – auch ein häufig verwendetes Bild bei Magris – ereignet. Welche Menschen leben dort, welche Hoffnungen haben sie, nach welchen Zielen richten sie ihr Leben aus. In dem vorliegenden Band folgt dem Text über den spanischen „Hochstapler des Grauens“ ein längeres Porträt seines argentinischen Freundes Ernesto Sábato. Von ihm stammt das Bild von den zwei Arten des Schreibens. Das „Tag-Schreiben“, so Sábato, ermögliche es dem Autor, „das auszudrücken, was er bewusst denkt, liebt, beurteilt, verdammt, hofft, für richtig oder für unannehmbar erachtet“. Das „Nacht-Schreiben“ hingegen „ruft die Monster der Nacht auf den Plan, das Böse, die Delirien des Eros, den Wahn und die Zerstörung … alles das, was in irgendeiner Abstellkammer unserer Seele vergessen und vergraben liegt“.
Dieser Wunsch, dieser nicht unterdrückbare Wille, dem Anderen auch gerecht zu werden, sich dem „Schwarz-Weiß-Denken“, wo immer es möglich und notwendig ist, zu entziehen, ist ein im gesamten Werk von Claudio Magris stets wiederkehrendes Leitmotiv. Das betrifft seine Ablehnung der antikommunistischen Besessenheit eines Berlusconi ebenso wie seine Distanz gegenüber dem heute weitverbreiteten antireligiösen Fundamentalismus einiger seiner intellektuellen Freunde. In einem der vielleicht schönsten Texte des Bandes plädiert Magris für ein erneutes Lesen der Bibel. Er reiht sich hier nicht ein in die fromme Hinwendung zu den „heiligen Texten“, sondern es geht ihm um den Erhalt eines großen literarischen und moralischen Schatzes, der immer mehr in Vergessenheit zu geraten droht. Für Magris ist es ein großer Skandal, dass in einem ehemals so katholisch-christlichen Land wie Italien die Bibel bestenfalls zu einer Lektüre von Minderheiten geworden ist.
Die Bibel als „Zivilisationscode“
Zusammen mit seinem Freund, dem erklärten Agnostiker Umberto Eco, gehört Magris zu den Erstunterzeichnern eines Aufrufs, in dem eine Wiederaufnahme (!) der Bibel in den Kanon der schulischen Literatur gefordert wird. „Die Bibel“, schreibt Magris in dem Titelessay dieses Bandes, „ist der große Code der Zivilisation … nicht nur wegen ihres Reichtums an Symbolen, Figuren, Bildern und Geschichten, mit dem sie aufwartet …, sondern weil sie in episch-sinnlicher Weise ganz konkrete Begebenheiten von Menschen und einem Volk erzählt, die fundamentalen Themen eines jeden individuellen wie kollektiven Lebens: geboren werden, begehren, irren, eine Heimat gründen, sie zerstören und verlieren, den Bruder lieben und hassen, das Leben intensiv und mit allen Sinnen erleben, seinen Glanz und seine Nichtigkeit, sich aufrichten an der Ahnung und an der Offenbarung dessen, was über die Zeit, das Leben, die erschaffenen Dinge hinausgeht.“ Wie kann man besser die Bedeutung der Bibel als eines „Zivilisationscodes“, eines Schlüsseltexts zum Verständnis unserer Welt in Worte fassen. Besser könnte man aber auch nicht die das Schreiben von Claudio Magris leitenden und immer wieder anstoßenden Ideen und Ideale beschreiben. Sein Buch enthält noch sehr viel mehr Essays, die man alle wenigstens kurz vorstellen müsste, um den von ihnen ausgehenden intellektuellen Reichtum anzudeuten.
Ein (langes) Kapitel ist Rudyard Kipling, gewidmet, dessen literarische Bedeutung weit über das bekannte „Dschungelbuch“ hinausgeht. Mit Joseph Conrad, einem seiner literarischen Leitfiguren, beschäftigt sich Magris ebenso ausführlich wie mit dem langsam immer mehr in die Vergessenheit versinkenden Gregor von Rezzori. Wer Claudio Magris und sein literarisches Werk kennt, wird vielleicht ganz besonders überrascht sein über seine „Eloge auf den Zorn“, der nicht immer verderblich ist. Was wäre die Literaturgeschichte ohne die Wut und den Zorn, die viele Autoren überhaupt erst zum Schreiben gedrängt haben?
In den hier versammelten Essays über Bücher und Menschen ist dieser Ton jedoch nirgends spürbar. Liebeserklärungen an die Literatur schreibt man nicht im Zorn, sondern mit Wissen und einer verführerischen Leichtigkeit, wie Magris sie in beneidenswerter Fülle besitzt.
Carl Wilhelm Macke
Claudio Magris: Das Alphabet der Welt. Von Büchern und Menschen. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. München: Hanser Verlag 2011. 300 Seiten. 21,90 Euro.