Wir müssen reisen
Neunzehn Geschichten aus zwölf verschiedenen Ländern erzählt uns Magris hier. Geschichten, von denen einige sehr kurz und trotzdem bewegend, lange nachhallend sind. Von Carl Wilhelm Macke
Es sei unmöglich, die „Unvorhersehbarkeit des Reisens, das Gewirr, die Verzweigungen der Wege, die Zufälligkeit der Aufenthalte, die Ungewißheit des Abends, die Asymmetrie einer jeden Strecke in die unerbittliche Ordnung einer wissenschaftlichen Abhandlung zu überführen“. Wie eine Art Basso continuo durchzieht diese Definition des Reisens und des Unterwegsseins das gesamte Werk von Claudio Magris. Sogar dort, wo Magris überhaupt nicht von seinen vielen Reisen in alle bekannten und unbekannten Winkel der Welt berichtet, spürt man immer diese Liebe zum Anarchismus, zum Unerwarteten, zu den abseitigen Wegen, zu den am Rande der historischen Hauptstraßen vergessenen Menschen. Immer wieder zitiert Magris dabei einen seiner intellektuellen Lehrer, den katholischen Theologen Karl Rahner, der das Wandern zwischen zwei Welten, das Bewegtsein und die nicht Vorhersehbarkeit des Weges, als eine Grundbestimmung des Menschen ansah. „Wir gehen, wir müssen suchen“, heißt es bei Rahner.
Die Empfehlung zuerst das Vorwort zu lesen, bevor man sich in die Lektüre eines Buches hineinstürzt, ist wenig originell. Was anderes ist denn der Sinn eines „Vorworts“? Doch das neue Buch von Claudio Magris, in dem eine, gegenüber dem italienischen Original leider nur sehr kleine Auswahl seiner Reisebilder aus den letzten Jahrzehnten versammelt ist, sollte unbedingt durch das Tor des Vorworts betreten werden. Hier hat Magris in einem großen Wurf noch einmal seine Philosophie des Reisens, des Entdeckens, des neugierigen Unterwegsseins zusammengefasst, die letztlich immer auch in eine Betrachtung über das Leben in allen seinen Unwägbarkeiten, seinen Sackgassen, seinen Abfahrten und seinen Ankünften mündet. „Die Reise beginnt immer wieder neu, muß immer wieder neu beginnen, wie das Leben, und jede Aufzeichnung darüber ist ein Prolog … Erst mit dem Tod endet der ‚status viatoris’ des Menschen.“
Der kleine Meister und die große Lotte
Den in diesem, auch im Umfang bedeutenden Vorwort angestimmten Grundton einer immer wieder neuen Entdeckerfreude, aber auch die Melancholie der Heimkehr verliert man bei der Lektüre der einzelnen Reiseetappen nicht aus dem Ohr. Neunzehn Geschichten aus zwölf verschiedenen Ländern erzählt uns Magris hier. Geschichten, von denen einige sehr kurz und trotzdem bewegend, lange nachhallend sind. Etwa die Begegnung mit einem Vater, der mit großer Empathie und Geduld seinen behinderten Sohn durch eine Gemäldesammlung in Barcelona führt. „Es ist dieser Mann – der, ohne es zu wissen, ein kleiner Meister für mich geworden ist –, vor dem man den Hut ziehen muß.“ Oder das nur kurze Innehalten vor dem Grab der Charlotte Kestner, geb. Buff auf einem unscheinbaren Friedhof am Rande einer Geschäftsstraße in Hannover. Heute von niemandem mehr beachtet, war sie einmal Goethes Vorbild für seinen Roman Die Leiden des jungen Werther.
Eher versteckt in kleinen Bemerkungen stößt man auch auf den politischen Lehrer Claudio Magris, der im heutigen Italien als einer der hartnäckigsten intellektuellen Opponenten des gerissenen und mit allen Wassern der Demagogie getauften Silvio Berlusconi gilt. „Man muß den kaum spürbaren, doch gefährlichen Antisemitismus, der im Schwange ist, schonungslos ins Auge blicken. Alles, was ihn nährt, muß aus der Welt geschaffen werden“, mahnt er bei seiner Erinnerung an ein ausgelassenes jüdisches Fest in Mexiko. In dem einer Reise durch den Iran gewidmeten Kapitel macht er den heute im Westen vorherrschenden „ultraliberalistischen Fundamentalismus“ mit verantwortlich für eine sich ausbreitende „Kultur der Gewalt“ in der islamischen wie in der christlich geprägten Welt. Einigen der hier versammelten Beiträge spürt man ihren heute überholten zeithistorischen Kontext deutlich an. Das Lektorat hätte an diesen Stellen deutlicher eingreifen müssen, weil so der Leser in die Irre geführt wird. Aber Magris versteht sich auch nicht als Korrespondent, als politischer Tagesjournalist ganz gewiss nicht.
Carl Wilhelm Macke
Claudio Magris: Ein Nilpferd in Lund. Reisebilder. (L’infinito viaggiare).
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Carl Hanser Verlag 2009. 222 Seiten.