Starke Stories
– Clemens Meyer gehört mit seinen zwei Romanen „Als wir träumten“ und „Im Stein“ sowie dem Erzählband „Die Nacht, die Lichter“ zu den stärksten deutschen Erzählern. Er, der selber eine bewegte Vergangenheit als Gabelstaplerfahrer, Wachmann, Bauarbeiter oder Sozialhilfeempfänger hat und schon im Gefängnis saß, dringt dabei tief in Milieus und Figuren ein, die sonst selten oder gar nicht in der deutschen Gegenwartsliteratur auftauchen. Emphatisch zeigt er sich als Chronist der kleinen Leute, der Halb- und Unterwelt, der Nacht und ihrer Geschichten. Von Karsten Herrmann
Dies ist nun auch in seinem neuen Erzählband „Die stillen Trabanten“ wieder auf beeindruckende Weise zu lesen und wir begegnen Reinigungskräften, Friseusen, Rentnern, alternden Jockeys oder Imbissbudenbesitzern. In „Glasscherben im Objekt 95“ erzählt der 1977 in Halle an der Saale geborene Autor von einem Nachtwächter, der ein an ein Ausländerwohnheim grenzenden Gebäudekomplex bewacht: „Die Nächte waren öde und endlos, begannen um sechs und endeten um sechs, sie waren wie dunkle Tage, die sich berührten“. Inmitten von rechten Krawallen vor dem Ausländerwohnheim begegnete der Nachtwächter vor Jahren einer jungen geflüchteten Frau, deren Gesicht und flüchtige Berührung ihn nun immer wieder vor Augen treten.
Clemens Meyer schildert so auch in seinen anderen Geschichten immer wieder mit hohem Einfühlungsvermögen von Begegnungen zweier Menschen und einer sich zart andeutenden Freundschaft – in einer Bahnhofskneipe beim Piccolo zwischen einer Friseurin und einer im Schichtdienst arbeitenden Reinigungskraft der Bahn, zwischen einem Ich-Erzähler und einem alten Mann auf einer Bank an der Küste oder von einem Imbissbudenbesitzer mit einem gläubigen Araber.
Der Erzählkosmos von Clemens Meyer ist von rauer Poesie und seine eher tristen Milieus kontrastieren sich mit blutroten Sonnenuntergängen, dynamischen Licht- und Wolkenformationen. Seine Prosa ist ebenso detailgesättigt wie einfühlsam und schafft schnell eine atmosphärisch dichte Stimmung. Aus den Zeilen sickert dabei stetig eine leichte Melancholie, das Gefühl von Abschied und Verlust heraus. Fast unmerklich lässt Clemens Meyer in seinen Geschichten die Zeiten sowie Traum, Realität und Imagination ineinander fliessen. „Was ist schon gegenwärtig“ fragt er und unterstreicht „wir befinden uns immer wieder woanders“. Und so laufen seinen Geschichten auch im Oszillierenden, im Offenen und Andeutenden aus.
Eine Gebrauchsanweisung für das Lesen seiner Geschichten liefert Clemens Meyer in seinem neuen Buch gleich mit: „Man muss behutsam und langsam durch diese Geschichten gehen, die Räume ausloten und ganz langsam schauen, Atem holen, dem Rhythmus folgen, die Personen berühren…“
Karsten Herrmann
Clemens Meyer: Die Stillen Trabanten. Erzählungen. S Fischer 2017. 270 Seiten. 20,00 Euro.