Geschrieben am 2. März 2009 von für Bücher, Litmag

Colm Tóibín: Mütter und Söhne

Im Minusland

Der irische Autor Colm Tóibín kann es sich leisten, dem Klischee zu folgen, wenn ihm danach ist. Befragt, womit er die Wochenenden verbringe, erwiderte er artig: „I get drunk“. Was sonst?! Und wenn seine Erzählungen Mütter und Söhne heißen, richten wir uns vorsorglich auf Ströme von Whiskey und Gefühl ein – Liebe im Übermaß, wortreiche Dramen usw. usw. Aber solche Klischees bedient Tóibín natürlich nicht. Von Gisela Trahms

Stattdessen treffen wir in „Drei Freunde“ einen schweigsamen jungen Mann namens Fergus, der bei seiner aufgebahrten Mutter die Totenwache hält und darüber nachsinnt, was ihr an den Beerdigungsfeierlichkeiten wohl gefallen hätte. Aus seinen Gedanken spricht Sympathie, er ist den Tränen nahe, aber erschüttert ist er nicht. Kurz darauf besucht er mit Freunden einen nächtlichen Rave am Strand. Jede Menge Koks und Ecstasy und Sex. Für solche Momente lebt Fergus, umso mehr, da die Flüchtigkeit dieser Vergnügungen ihm nur allzu bewusst ist. Nirgendwo ein Weg, eine Perspektive. Aber das war wohl immer so, ob mit oder ohne Mummy – sie wird nicht vermisst.

Die Fäden, aus denen die laut Freud folgenreichste Beziehung zwischen zwei Menschen geknüpft ist, flattern hier eher lose durch seltsam leere Räume, und zwar nicht, weil die Söhne die Mütter allein lassen, sondern umgekehrt. Mütter schicken den Sohn zur Großmutter oder gehen fort oder sterben. Freilich reagieren nicht alle Söhne darauf so gleichmütig wie Fergus. In „Ein Lied“ trifft Noel während einer Country Music–Session in einem Pub unerwartet auf seine Mutter, die vor Jahren die Familie verließ, um als Folksängerin Karriere zu machen. Sie starrt ihn an, unsicher, fragend, hoffnungsvoll, während er sie sofort erkennt. Als sie singt, bleibt seine Mimik steinern, schließlich hält er es nicht mehr aus und flieht. Der Schmerz bleibt.

Auf eigene Erfahrungen angesprochen, verweist Tóibín auf „Eins minus eins“, eine in Ich-Form erzählte Erinnerungseruption. Damit sie sich um den kranken Vater kümmern konnte, gab die Mutter Colm und seinen Bruder zu Verwandten, die ihnen ganz fremd waren. Monatelang lebten sie dort, „als ob Cathal und ich diese Zeit im Schattenreich zugebracht hätten, als ob man uns still und leise ins Dunkel hinabgelassen hätte, wo nichts Vertrautes mehr war.. Da niemand den Anschein erweckte, uns zu hassen, kam uns auch nie der Gedanke, dass wir in einer Welt waren, in der niemand uns liebte, oder dass so etwas überhaupt eine Rolle spielen könnte. Wir beklagten uns nicht. Wir waren vollkommen entleert, und in das Vakuum trat etwas wie Schweigen – fast keinerlei Geräusche, bloß ein paar traurige Echos und verschwommene Empfindungen.“ Verglichen mit den Schreckensnachrichten über Kindesmisshandlungen, die uns täglich erreichen, scheint das nichts – „ebenso wie eins minus eins wie null aussieht“. Aber es sieht eben nur so aus, in Wirklichkeit bedeutet das Minus einen Schnitt, der niemals heilt. Solche Traumata zu beschreiben, versteht Tóibín wie kaum ein anderer.

Ein Schnitt, der niemals heilt

Geradezu überwältigend hat er diese Fähigkeit in dem vor fünf Jahren erschienenen Roman Porträt des Meisters in mittleren Jahren demonstriert, der mit Preisen überschüttet wurde, alle Bestenlisten stürmte und sicher eines der großartigsten Bücher dieses Jahrzehnts bleiben wird. Dass Tóibín sich danach der kleinen Form zuwandte, ist verständlich. Der Eindruck bleibt jedoch zwiespältig. In Fergus’ Geschichte, und nicht nur in seiner, fehlt jener Zusammenhang, der eine Story über eine bloße Abfolge von Episoden hinaushebt. Die beinahe sechzig Seiten über eine verwitwete Mutter, die sich aus Schulden und Schwierigkeiten hochrappelt („Die Parole“), schnurren ab wie eine Gebrauchsanweisung zum Erfolg. Und die so bezwingende Erzählung „Eins minus eins“ leidet unter dem sentimentalen Ton, mit dem sich das erzählende Ich an ein Du wendet.

Hätte Tóibín nicht durch seinen Roman die Messlatte so hoch gelegt, läse man über solche Mängel vielleicht hinweg. Denn die Geschichten sind ja durchweg intelligent und einfühlsam, voll präziser Detailbeobachtungen und leuchtender Formulierungen. Dennoch scheint der Autor eher für das große Format geboren zu sein. Den Beweis dafür liefert die längste Erzählung des Bandes: Sie überstrahlt alle anderen wie eine kalte Sonne.

Wie eine kalte Sonne

Diese „short novel“ von knapp hundert Seiten mit dem Titel „Ein langer Winter“ spielt als einzige nicht in Irland, sondern in einem abgelegenen Dorf in den katalanischen Pyrenäen. Das Leben scheint öde in dieser archaischen Welt. Miquel, gerade vom Militärdienst zurück, zu dem sein jüngerer Bruder nun aufbrechen muss, ist dennoch froh, wieder auf dem elterlichen Hof zu sein und möchte nirgendwo anders leben. Aber dann, kurz vor dem ersten Schneefall, geschieht etwas Unerwartetes und entfaltet den ganzen eisigen Winter hindurch eine Spannung, die sich erst mit dem Frühjahr lösen wird, wenn es taut und die Geier kommen. Zum Schluss sind sie dann endlich da, aber ein wirkliches Ende ist das nicht, eher ein brutaler Abbruch mit einer Szene wie aus einem Sergio Leone-Film.

Freimütig beschrieb Tóibín in einem Interview seinen Ehrgeiz: etwas wie Herz der Finsternis von Joseph Conrad oder The Turn of the Screw von Henry James zu schreiben, ein o­nce-in-a-lifetime Stück Prosa. Die Schwierigkeit bestand darin, die Geschichte nicht wuchern zu lassen, wozu sie einlud, sondern „to cut it down“, immer wieder. Dieser Druck der Kürzungen, die wütende Intensität des Streichungsprozesses ist auf jeder Seite zu spüren. Man glaubt den Autor keuchen zu hören, obwohl man doch andererseits von der Totenstille des Bergwinters wie ertaubt im Sessel sitzt. Wiederum handelt die Geschichte von Abwesenheit, davon, wie sie nach und nach das Innere der Zurückbleibenden zerfrisst, während der allgegenwärtige Schnee draußen so leicht scheint wie ein Nichts und doch kein Entkommen erlaubt.

Tóibín, Jahrgang 1955, ist ein traditionsbewusster Autor, kein postmoderner Spieler. Sein Interesse gilt nicht der innovativen Form, sondern dem, was in der Tiefe der Figuren schlummert. Er meint es ernst. Wie mit seinem Roman hat er mit „Ein langer Winter“ viel gewagt und glänzend gewonnen.

Gisela Trahms

Colm Tóibín: Mütter und Söhne. (Mothers and Sons, 2007). Erzählungen.
Übersetzt von Giuseppe und Ditte Bandini.
München: Hanser-Verlag 2009. 288 Seiten. 19,80 Euro.