Von Menschen und Bestien
– Endlich, möchte man aufstöhnen. Endlich wurde Cormac McCarthys dritter Roman „A Child of God“ ins Deutsche übertragen, einundvierzig Jahre nach seinem Erscheinen in Amerika. Ein nicht unwesentlicher Grund dafür dürfte wahrscheinlich die Verfilmung durch den umtriebigen und talentierten Schauspieler/Maler/Schriftsteller/Regisseur James Franco spielen. Aber beklagen wir nicht die Umstände, denen wir die Veröffentlichung verdanken, sondern freuen uns, ein weiteres Glanzlicht aus der Feder des seit Jahren als Nobelpreisanwärter gehandelten McCarthy auf Deutsch lesen zu dürfen. Ein Hymne von Bernd Jooß.
„A Child of God“, ein Kind Gottes, diese Bezeichnung besitzt in Amerika eine Doppeldeutigkeit, die in der Übersetzung leider verlorengeht. Denn so wird dort nicht nur ein bekennender Christ genannt, sondern auch jene Kinder, die mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung auf die Welt kommen. Und auch Ballard, der Protagonist in McCarthys Roman, ist zurückgeblieben, nicht körperlich, sicher zum Teil geistig, aber vor allem emotional. Zeit seines Lebens ist Ballard ein Ausgestoßener. Sein Vater hat sich erhängt, als er gerade einmal zehn Jahre alt war (Ballard fand ihn mit geplatzten Augäpfeln in der Scheune), während seine Mutter bereits vor Jahren abgehauen ist.
Zudem gilt seine Familie seit jeher als verschroben und verkommen, wobei Ballard mit seinem Verhalten keine Ausnahme darstellt. Seine Empathie für andere Menschen ist nur schwach ausgeprägt, er besitzt ein aufbrausendes Temperament und ist außerdem etwas schwer von Begriff. Daher fristet er sein Dasein hauptsächlich am Rande der Gesellschaft, was jedoch nicht bedeutet, dass in ihm nicht dieselbe Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Zweisamkeit wie in jedem anderen Menschen schlummert. Da er allerdings nie gelernt hat, wie man mit derartigen Gefühlen umgeht, streunt er umher wie ein hungriger Wolf auf der Jagd. Und irgendwann, wenn der Hunger zu groß wird, legt der Wolf jede Vorsicht ab und beginnt seine Beute zu reißen. So auch Ballard.
Der Weg in die Dunkelheit
Ausgangspunkt der Geschichte ist die Zwangsversteigerung seines Elternhauses. Als Ballard diese nicht verhindern kann, zieht er in eine Hütte abseits der Stadt und verbringt seine Tage vorwiegend damit, ziellos durch das Hinterland von Tennessee zu streifen. Bei einem dieser Streifzüge ertappt er auf einen entlegenen Parkplatz ein Pärchen beim Sex. Ein Erlebnis, durch das sein Verlangen nach Körperlichkeit endgültig zu lodern beginnt. Immer häufiger belästigt er fortan Frauen und beobachtet Liebende beim Sex, bis er ein Paar entdeckt, das während des Aktes in einem Auto gestorben ist. Fasziniert von dem nackten, noch weichen Frauenkörper, wuchtet er die Leiche nach draußen und vergeht sich an ihr. Anschließend nimmt er sie mit in seine Hütte, wo er sie noch mehrere Male missbraucht, sich aber auch zärtlich an ihren Körper schmiegt, um so Nähe zu imitieren.
Doch sein „Glück“ währt nicht lange, denn durch eine Unachtsamkeit brennt seine Hütte eines Nachts nieder und mit ihr die Frauenleiche. Dadurch verliert Ballard nicht nur seine letzte zivilisatorische Zufluchtsstätte, sondern es vollzieht sich ein weiterer Rückschritt in seiner Entwicklung, der ihn endgültig von der Gesellschaft separiert. Daher scheint es nur folgerichtig, dass seine nächste Bleibe eine Höhle darstellt, in der er sich häuslich einrichtet.
Triebe
Seine Triebe übernehmen nun immer öfter die Kontrolle, und um sein Verlangen zu befriedigen, beginnt er, Männer und Frauen zu töten. Nachdem er sich an den weiblichen Opfern vergangen hat, versteckt er die Leichen in geheime Gänge in seiner Höhle. Trotz allem existiert in ihm noch eine Stimme, die ihm zuflüstert, zu welchem Monster er geworden ist. Schuldgefühle plagen ihn und hin- und hergerissen zwischen diesen und seinen Trieben, zeigt er allmählich schizophrene Züge, die sich unter anderem darin bemerkbar machen, dass Ballard anfängt, Frauenkleider und Perücken zu tragen. Er wird immer unberechenbarer, bis ihm die Leichen nicht mehr genügen und er sich nach einer lebenden Frau sehnt. Als Opfer hat er ein Mädchen auf seiner Nachbarschaft auserkoren, doch als sein Plan in einer Katastrophe mündet, schlägt seine innere Zerrissenheit in unbändigen Zorn um. Ein Zorn, der dringend ein Ventil braucht und dieses heißt John Geer, der Mann, der sein Elternhaus ersteigert hat. Aber Ballard hat die Rechnung ohne die Stadtbewohner gemacht, die längst hinter ihm her sind und auf Rache sinnen.
Der Preis der Zivilisation
Cormac McCarthy beschreibt in „Ein Kind Gottes“ eine umgekehrte Evolution, die Rückentwicklung eines domestizierten Menschen zur triebgesteuerten Bestie, an deren Ende seine gewaltsame „Wiedergeburt“ steht. Doch je weiter man liest, desto mehr beschleicht einen der Verdacht, dass Ballard nicht nur Täter ist, sondern bis zu einem gewissen Grad ebenso Opfer. Opfer einer Gesellschaft, die nicht eine Sekunde zögert, einen der ihren zu verstoßen, um ihn anschließend zu jagen. Doch vielleicht ist das der Preis der Zivilisation, dass man hin und wieder jemanden aus den eigenen Reihen zur Bestie werden lässt, um an ihr seine eigenen urzeitlichen Triebe ausleben zu können und um zu verhindern, dass der Rest wieder in Chaos und Anarchie versinkt. Wir alle stammen aus einer dunklen Höhle, und wir haben uns weniger weit von dieser entfernt, als wir uns manchmal gern einreden möchten und Cormac McCarthy weiß das.
Er konnte nicht schwimmen, aber wie wollte man ihn ertränken? Sein Zorn schien ihn über Wasser zu halten. Hier scheint es ein Innehalten im Ablauf der Dinge zu geben. Seht ihn auch an. Man könnte sagen, er wird von seinen Mitmenschen getragen wie man selbst. Hat das Ufer mit ihnen bevölkert, die ihn rufen. Ein Geschlecht, das die Versehrten und Verrückten säugt, das ihr falsches Blut in seiner Geschichte will und auch bekommen wird. Aber sie trachten diesem Mann nach dem Leben. Er hat sie in der Nacht gehört, wie sie mit Laternen und Verwünschungen nach ihm suchen. Wovon also wird er oben gehalten? Oder vielmehr, warum verschlingt dieses Wasser ihn nicht?
Die Poesie des Minimalismus
Wie typisch für McCarthy, ist sein Schreibstil karg, ohne große Beschreibungen, Ausschweifungen und Erklärungen oder stilistischen Firlefanz. Er schreibt präzise, knappe Sätze, die oft mehr aussagen als bei anderen Schriftsteller komplette Absätze. Zudem verlässt er sich ganz auf seine Protagonisten sowie auf seine Dialoge, die kaum jemand realistischer und aussagekräftiger zu Papier bringt als er. Und diese Mittel sind völlig ausreichend, um die ganze Wucht seiner Erzählung zu entfalten. Dazu gehört auch die Gewalt, die in Cormac McCarthys Welt allgegenwertig ist und die er mit erschreckender Nüchternheit beschreibt.
Schauplatz ist wie häufig der amerikanische Süden zur Zeit der letzten Jahrhundertwende, mit seinen spröden und wortkargen Menschen sowie seiner ursprünglichen Natur. Diese nimmt bei McCarthys Romanen stets eine zentrale Rolle ein, ihre facettenreichen Schönheit ist immer präsent, sie kennt weder Mitleid noch Gnade und ist in ihrem Urteil unerbittlich, fast wie Gott selbst. Und genau dieser Gottheit liefert McCarthy seine Figuren jedes Mal aufs Neue aus, damit sie sich entweder behaupten oder untergehen. Es gibt nur wenige lebende Schriftsteller (E. Annie Proulx gehört sicher dazu), die nicht nur das raue Leben des amerikanischen Südens einfangen, sondern ebenso den ständigen archaischen Kampf des Menschen ums Überleben erzählen können.
Und dennoch merkt man „Ein Kind Gottes“ an, dass es sich um ein Frühwerk von Cormac McCarthy handelt. Dieses Buch ist nicht derart metaphorisch und besitzt nicht die gleiche alttestamentarische Wucht und Epik wie seine späteren Bücher, allen voran „Die Abendröte im Westen“, „Grenzgänger“ und seine zuletzt erschienene und mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Erzählung „Die Straße“. Trotz allem lohnt sich die Lektüre und verkürzt die Wartezeit auf sein neues Buch. An diesem arbeitet er bald seit zehn Jahren und soll laut den spärlichen Informationen, die im Netz kursieren, eine von ihm schon lange geplante Geschichte über New Orleans sein, in der zum ersten Mal eine Frau eine größere Rolle spielt. Bleibt zu hoffen, dass der Rowohlt Verlag in der Zwischenzeit auch noch das erste Buch von ihm, „The Orchard Keeper“ (1965), ins Deutsche überträgt sowie eine Sammlung mit seinen Theaterstücken, allen voran dem brillanten Zwei-Personen-Stück „The Sunset Limited.“
Bernd Jooß
Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes (Child of God, 1974). Roman. Deutsch von Nikolaus Stingl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2014. 191 Seiten. 12,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr zum Autor. Zur Autorenhomepage.