Geschrieben am 8. Dezember 2012 von für Bücher, Crimemag

Craig Robertson: Snapshot; Enrique Metinides: 101 Tragödien

Desaster und Fotos

– Craig Robertsons Roman „Snapshot“ erzählt vom Fotografieren von Leichen und Katastrophen, als ob es um die im Bild festgehaltenen Tragödien von Enrique Metinides ginge. Eine Rezension mit einem Exkurs von Thomas Wörtche.

Es zieht sich durch die Zeiten – das Bedürfnis der Menschen, Elend, Gräuel und Tod wirklichkeitsgetreu im Bild festzuhalten und irgendwo noch eine ästhetische Dimension darin zu suchen. Das geht von Jacques Callots Stichen aus dem Dreißigjährigen Krieg, Goyas „Desastros de la Guerra“ über die in ihrer ikonographischen Wirkung nicht zu überschätzenden s/w-Fotos des New Yorker Kriminalreporters Weegee bis hin zu den Desaster-Tableaus des mexikanischen Fotografen Enrique Metinides.

Nahaufnahmen

Ein großer Fan von Metinides ist der Held von Craig Robertsons Roman „Snapshot“, der Polizeifotograf Tony Winter. Tony ist nicht Polizist, sondern Zivilangestellter bei der Strathclyde Police von Glasgow und als solcher für die penible fotografische Dokumentation von Tatorten und – vor allem – von Leichen und Wunden zuständig. Denn, so lernen wir aus dem Roman, Foto ist nicht gleich Foto und die digitale Fotografie ist bei weitem nicht der Weisheit letzter Schluss. Es gibt traditionelle Techniken, die gewisse Aspekte der Todesumstände deutlicher sichtbar machen, als die Technik-Euphorie von CSI uns glauben machen will. Winter beherrscht all das und vor allem ist er obsessiv. Er hat ein zwanghaftes, eher erotisches Verhältnis zu Leichen, er ist bemüht, im Tod Schönheit und Erhabenheit festzuhalten und er muss es tun. Eine problematische und nicht nur nette Hauptfigur also, die in eine blutige Auseinandersetzung zwischen Glasgower Gangstern (so wie es zunächst aussieht, denn einer nach dem anderen werden führende Köpfe und minderrangige Handlanger der Unterwelt spektakulär „hingerichtet“) hineinrutscht, die immer bedrohlichere Dimensionen bekommt und für die seine Fotos nicht ganz unwichtig sind.

Cops & Robbers

Oberfläche und Tiefenstruktur sind in gewisser Weise auch das Thema des Romans: Auf einer Ebene erzählt Robertson von Gangstern und Polizisten, von Legalität und Legitimität, von Vigilantismus und gewaltigen Frustrationen. Ein klassischer schottischer Cops & Robbers-Roman aus Glasgow, viel näher an dem raueren Milieu von William McIlvanney als an den eher softeren Edinburgh-Romanen von Ian Rankin. Der selbsternannte Rächer wütet unter dem Beifall der Bevölkerung, wenn wieder eine stadtbekannte kriminelle Figur möglichst grausam getötet auftaucht. Aber so sieht es nur aus, der Kreuzzug eines Einzelnen ist die Oberfläche, das Problem gründet tiefer direkt in der Polizeistruktur. Die Interdependenz zwischen Polizei und dem Organisierten Verbrechen ist ja gerade in ernstzunehmenden Kriminalromanen (und Filmen) von den Inseln derart massiv zum Standard-Thema geworden, dass man unter der Oberfläche der Sicherheits- und Überwachungsdiskussion auf tieferliegende Kollektivneurosen mit guten Gründen schließen darf.

Auch die Arbeit unseres psychopathischen Fotografen führt in eine buchstäblichere tiefere, anscheinend versunkene städtebauliche Schicht unter Glasgow, wo nicht nur symbolhaft die Ratten lauern – und gleichzeitig in eine sehr tiefe Schicht seiner Psyche und Biografie.

Beide Ebenen überblendet Craig Robertson geschickt, beide haben mit Wahrnehmung und Rasterung von Realität zu tun, mit dem Blick des Fotografen und Chronisten und somit auch mit unserem Blick auf eine Stadt, ihre soziale und damit auch kriminelle Topographie, den Storys, die man davon erzählen kann und den poetischen Momenten, auch wenn diese oft tiefschwarz schimmern.

Exkurs

Hier liegt auch die innere Verbindung zu den Bilder von Enrique Metinides, von denen unlängst eine feine Auswahl unter dem Titel „101 Tragödien“, herausgegeben und kommentiert von Trisha Ziff, erschienen ist. Metinides, der „Sammler des Unerwarteten“ war fünfzig Jahre lang Pressefotograf für „La Prensa“ in Mexiko City, eine Zeitung, deren Spezialität die nota roja war – die Sensationsmeldung. Voyeuristisch, schrill, geschmacklos und obszön, in unseren Augen. Aber auch fixiert auf mala suerte, das Unglück, das uns jederzeit ereilen kann. Ganz demokratisch, weil kontingent, eben unerwartet. Metinides’ Fotos sind weit mehr als Krawallbilder, er hält nicht einfach drauf, sondern hat die Nerven und das Ingenium, Momente des Schocks und des Grauens vom Sensationellen ins Existentielle zu verwandeln.

Bei aller Präzision und Genauigkeit haben seine Tableaus vom Unglück anderer Menschen immer noch eine Dimension mehr. Eine Geschichte (wie die von der armen Frau, die die Krankenhausrechnung für ihre Tochter nicht bezahlen kann, worauf das Krankenhaus die Leiche der Tochter als Pfand einbehält; oder die Geschichte einer Autorin, die sich zur Buchpräsentation schick und fein macht, auf dem Weg dorthin überfahren wird und noch im Tod würdevoll schick und feingemacht aussieht; die Geschichte von dem armen Jungen, der bei der Arbeit mit der Hand in den Fleischwolf gerät usw.), ein Protokoll von Aktion und Reaktion (bei vielen der Fotos sind die Schaulustigen und die Gaffer wichtiger, wenn nicht der dominierende Aspekt) und vor allem die Grundüberzeugung, dass Gewalt, Tod, Verbrechen und menschliche Unzulänglichkeit konstitutiver Bestandteil der Realität sind, die man weder sensationalistisch hysterisieren noch kleinteilig banalisieren darf, um damit umzugehen, resp. um all das Schlimme überhaupt auszuhalten. Bemerkenswerterweise bezieht sich Metinides immer wieder auf den film noir und auf klassische Gangsterfilme, um seine Perspektive auf die Realitäten zu erklären und auch um so die Bildkompositionen anzulegen. Das Narrativ der Crime Fiction als Matrix für die fotografisch-abbildende Interpretation von Wirklichkeit.

A Kind of Crash

Das wiederum verschränkt sich aufs Spannendste mit Craig Robertsons Strategie, die fiktive Wirklichkeit seines Narrativs durch die Linse der verschiedenen Kameras interpretieren zu lassen. Ungeklärt bei Metinides bleibt die Dimension des Sexuellen – die James Graham Ballard in seinem kapitalen Roman „Crash“ (und David Cronenberg in seiner Verfilmung) an ähnlich zerstören Leibern, wie sie auf den mexikanische Fotos (eine eigene Spielart der „Atrocity Exhibition“) zu sehen sind, exaltiert hat –, seltsam ungeklärt, während bei Robertson dauernd die Rede davon ist, wenn auch selten explizit.

Thomas Wörtche

Craig Robertson: Snapshot (Snapshot, 2011). Roman. Deutsch von Ulrich Thiele. München: Heyne 2012. 478 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

Enrique Metinides: 101 Tragödien. Fotografien und Anmerkungen von Enrique Metinides. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Trisha Ziff. Übersetzung: N.N. Heidelberg/Berlin: Kehrer Verlag 2012. 183 Seiten. 40,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

Fotos „101 Tragödien“: Kehrer Verlag/artbooksheidelberg.de.
Goya-Bild: wikimedia, gemeinfrei.

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