Geschrieben am 12. Juni 2010 von für Bücher, Crimemag

D.B. Blettenberg: Murnaus Vermächtnis

Der Mann ohne Schatten

D.B. Blettenberg ist einer der wenigen, wirklich wichtigen deutschsprachigen Kriminalautoren. Und dabei ist er gar kein Kriminalromanautor im üblichen Sinn. Denn Schubladen sind ihm zu eng, so wie regionale Räume auch Enge schaffen. D.B. Blettenbergs Romane brauchen Raum … Thomas Wörtche stellt den neuen Roman vor …

Murnaus Vermächtnis ist der elfte Roman des dreifachen Deutschen-Krimi-Preis-Trägers D.B. Blettenberg. Ein klassischer Kriminalroman ist aber – genauso wenig wie seine zehn Vorgänger – auch dieser Roman nicht. Er spielt hauptsächlich in Ghanas Hauptstadt Accra und in deren Hinterland, der Overvolta-Region, in Brandenburg, in Tunis, mit Abstechern unter anderem nach Polynesien und Kalifornien. Es geht um Magie, um Juju, Voodoo, um Okkultismus und Religion, um Realpolitik, Kolonialismus und Geschäftemacherei. Es geht um Liebe und Tod, Inzest und Identität, Gewalt, Verbrechen, Horror und Film. Und es geht um den großen Filmemacher Friedrich Wilhelm Murnau, aus dessen Œuvre uns mindestens Nosferatu ein Begriff sein sollte.

Die thematische Bandbreite des Romans um den in Ghana lebenden Ex-Legionär Victor Voss ist beeindruckend, denn alle oben aufgezählten Elemente hängen zusammen, so disparat und beliebig sie sich auf den ersten Blick ausnehmen mögen. Fast noch beeindruckender ist die erzählerische Brillanz, mit der Blettenberg diese Stoffmenge zu einem 700-Seiten-Roman in präziser, oft lakonischer und sarkastischer Prosa verarbeitet.

D.B. Blettenberg (Foto Wolfgang Jahnke)

Der Heilige Gral

D.B. Blettenberg (Foto Wolfgang Jahnke)

Alles fängt ganz harmlos und thriller-typisch damit an, dass Voss einen dubiosen Schatzjäger ins Landesinnere von Ghana begleiten soll, was als professioneller Reisebegleiter nun einmal sein Job ist. Der Schatzjäger, der seltsamerweise keinen Schatten zu haben scheint, ist hinter verschollen geglaubtem Filmmaterial von Murnau her, genauer hinter einer Kopie des als verschollen geltenden Films „Four Devils“, unter Filmfreaks als eine Art Heiliger Gral gehandelt. Ziemlich bald stirb dieser eines unschönen Todes und dann fallen weitere Leichen an. So weit, so konventionell.

Dann aber rückt Blettenberg ein ganzes Figurenensemble in den Mittelpunkt der Handlung, deren einzelne Mitglieder wir zunächst für die üblichen Randfiguren eines Thrillers zu halten versucht sind. Diese Figuren und die einzelnen Handlungselemente fügen sich mehr und mehr zu einem Roman über Victor Voss, seine Herkunft, seine Familie, seine Vergangenheit, seine Identität. Das Geheimnis um die Murnau-Filmrollen verwandelt sich Zug um Zug in das Geheimnis von Victor Voss, seiner Mutter, seines Vaters und deren prekäre, weil auch sehr deutsche Familiengeschichte. Dass nebenbei noch eine sehr brauchbare, knappe Biografie von Friedrich Wilhelm Murnau entstanden ist, wie es sie trotz Lotte Eisners berühmtem Murnau-Buch noch nicht gibt, sollte Verleger von Filmbüchern zur Kontaktaufnahme mit Blettenberg motivieren. Dieser Hinweis aber sollte beflissene Buchhändler nicht dazu animieren, den Roman unter „Filmbuch“ einzuordnen (na ja, wenn er auch dort steht, ist ja gut), denn Murnaus Vermächtnis ist ein feines Stück Literatur.

Dass Voss ein Mischling (wie etliche Figuren aus anderen Romanen Blettenbergs, allen voran Farang) ist, steht für das Prinzip, das Blettenbergs Literatur antreibt. Als weit gereister Spezialist für Entwicklungspolitik ist ihm buchstäblich die ganze Welt ein großer literarischer Schauplatz, auf dem sich in keine simplen Kategorien zu pressende Dinge abspielen: Gewalt und Verbrechen sind überall, Menschen sind komplexe Wesen, Rationalität und Irrationales mischen sich stets, und überhaupt und wie überall sind knallharte Interessen im Spiel. In all dem stecken Geschichten. Und die erzählt Blettenberg mit ruhiger Souveränität, spannend und gleichzeitig entspannt. Man könnte seine Romane (politische) Abenteuerromane nennen, wie wir sie aus der angelsächsischen Tradition von Ross Thomas, Graham Greene oder Ernest Hemingway kennen. Und genau in diese Traditionslinie gehört Blettenberg.

Eine leicht veränderte Fassung kann man auf Deutschlandradio Kultur lesen und auch hören.

Thomas Wörtche

D.B. Blettenberg: Murnaus Vermächtnis. Roman.
Köln: Dumont 2010. 576 Seiten. 19,95 Euro.

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