Satanisten, Fanatiker und viele Widersprüche
– Damien Echols: „Mein Leben nach der Todeszelle“ – ein Sachbuchtitel, der so alles an Sensationsgier zu befriedigen verspricht und mit den letzten Dingen herumspielt. Sophie Sumburane hat sich den seltsamen Text genauer angeschaut.
Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Sie sind ein unreifer 18-jähriger Teenager, werden wegen Ihres Äußeren von einem aufsässigen Polizisten beschattet und landen plötzlich, wohl auch wegen dieses Mannes, in der Todeszelle. Für ein Verbrechen, dass Sie nicht begangen haben, von dem sich der Staat aber wünscht, Sie wären es gewesen. Unvorstellbar? Sollte man meinen.
Dennoch scheint Damien Echols, Jessie Misskelly und Jason Baldwin genau das passiert zu sein. Damien Echols, der Jugendliche, der wegen Mordes an drei Jungen im Alter von acht Jahren zum Tode verurteilt wurde, hat seine Erlebnisse nun in einem Buch „Mein Leben nach der Todeszelle“ veröffentlicht.
Aber zunächst zurück auf Anfang: Am 06. Mai 1993 wurden die drei Jungen aus West Memphis in Arkansas, Michael Moore, Steve Branch und Christopher Byers, tot in einem Bach gefunden. Nach mehreren erfolglosen Verhören wurden schließlich der bereits polizeibekannte, mehrmalige Patient einer Nervenklinik Damien Echols und seine beiden Freunde verhaftet. Die getöteten Jungen sollen Opfer satanistischer Rituale geworden sein, wegen Satanismus wurde Echols schon zwei Jahre zuvor von einem Jugendsozialarbeiter beschattet. Er erscheint als der perfekte Täter, die Unschuld schon vor Prozessbeginn widerlegt und außerdem gibt es da das Geständnis seines Freundes Jessie Misskelly. Echols aber sieht sich von Beginn an als Opfer zurückgebliebener religiöser Fanatiker, die ihn ausgrenzen und verurteilen, weil er anders ist.
Schlimme Kindheit
Und anders ist Damien Echols ganz sicher. Sein sehr persönliches Buch beschreibt ausführlich seine Kindheit in bitterer Armut, die lieblose Mutter, die gleichgültige Schwester. Ein Stiefvater, der den Jungen misshandelt, mit Schlägen und Worten malträtiert. Aber auch erste Lieb- und Leidenschaften, Freundschaften, Klamottenvorlieben und sehr viel Musik.
Es dauert mehr als die Hälfte des Buches, bis Echols zum eigentlichen Fall und dem Prozess kommt. Bis dahin beschreibt er Erinnerungssequenzen, Fetzen eines Lebens, das von vornherein zum Scheitern verurteilt schien. Erzählt, wie er in der Schule mehrfach sitzenblieb um im zweiten Teil des Buches seine Intelligenz zu loben, die ihm das Überleben im Todeszellenloch ermöglicht habe.
Und dies scheint nicht der einzige Widerspruch im Buch. Echols beschreibt, wie er zweimal in eine Nervenklinik eingewiesen wurde, einmal von seiner eigenen Mutter. Er beschreibt es, als sei es aus Versehen passiert, ein tragisches Missgeschick im Justizsystem der USA. Dennoch nimmt er seit dem ersten Aufenthalt über mehrere Jahre Antidepressiva. In den auf wm3.org veröffentlichten Ermittlungsmaterialien findet sich die Diagnose als Notiz in Echols eigener Handschrift von damals: „Soziopath“ mit „mörderischen Neigungen“. Von dieser Diagnose erfährt der Leser des Buches ohne einen Blick in diese Akten jedoch nichts.
Es ist auffällig, dass Echols in seinem Buch mehrere Dinge verschweigt, so zum Beispiel die Tatsache, dass sein Freund Jessie Misskelly mehr als einmal ein Geständnis abgelegt hat.
Alles Schweine
Beim Lesen beschleicht einen das Gefühl, da will einem jemand mit allen Mitteln klarmachen, dass an all den Anschuldigungen so gar nichts dran ist. Sämtliche Polizisten sind widerliche Schweine, zu fett für ihre Haut und sowieso vollkommen dämlich, selbst seine Anwälte rühren angeblich keinen Finger für ihn, ja nehmen noch nicht einmal alle Beweise zur Kenntnis, schon gar nicht die, die Echols in der Hinterhand hat. Zeugen werden nicht gehört, Spuren nicht ausgewertet, Berichte nicht zu Ende gelesen.
Wenn all diese Behauptungen so wahr sind, wie Echols es beschreibt, dann hat die US-amerikanische Justiz ein gewaltiges Problem. Mehr als gewaltig.
Es gibt schließlich in dem Teil, in dem Echols sich selbst im Todestrakt beschreibt, etwas, neben all den Einzelheiten und Kleinigkeiten, das der Leser vermissen wird: Empathie. Kein Wort über die drei ermordeten, gefolterten Jung oder deren Familien. Die beschreibt er nur als Menschen, die ihn hängen sehen wollen.
Mitleid für Mörder
Statt mit den Opfern scheint er dagegen ein gesteigertes Mitleid für die Mörder um ihn herum zu entwickeln. Geradezu liebevoll beschreibt er Verhaltensweisen, Kurzdialoge und gebrochene Charaktere, die allesamt wahnsinnig sind und nimmt dies zum Anlass, die Todesstrafe anzuprangern. Im Gesetz steht, es dürfen keine geistig behinderten Menschen hingerichtet werden. In Echols Augen sind um ihn her alle außer ihm geistig behindert, Verrückte, Bekloppte. Niemand von ihnen dürfte hingerichtet werden.
Er selbst schützt sich vor dem Verrücktwerden durch einen wirren Mix aus religiösen Praktiken. Meditieren, Fasten, Beten. Kabbala, Hinduismus, Buddhismus, Katholizismus (Obwohl die zurückgebliebenen Katholiken in seiner Kleinstadt in ja zum Teufelsanbeter erklärt hatten), es gibt nichts, das Echols nicht versucht.
Sämtliche Bücher hat er gelesen, Lehren studiert, Gelehrten gehuldigt. Und geheiratet. Seine Frau Lorri, die ihn im Gefängnis besuchte, ihn unterstützte und draußen für ihn und seinen Fall kämpfte.
Warum Echols Fall derart viel Aufmerksamkeit erregte, lässt sich durch mehrere Dokumentarfilme erklären, in denen er und seine beiden Freunde als Unschuldige dargestellt werden. Die Regisseure Joe Berlinger und Bruce Sinofsky (Informationen zur Paradise Lost Trilogie) entlarven die Vorgänge als „Hexenjagd“ gegen unangepasste Teenager. Dies bringt Echols nicht nur einen Fonds, um Verteidiger zu bezahlen, sondern auch prominente Freunde wie Johnny Depp oder Marilyn Manson.
Streckenweise verliert sich Echols dann auch in seinen Danksagungen, an die vielen Menschen, die ihm Briefe schreiben, unterstützen. Er nennt Namen, dankt und dankt, aber das sei ihm nicht vergönnt, schließlich verdankt er dem Einsatz dieser Namen sein Leben.
Gefühle, letztendlich
In teils langen Introspektiven, original handschriftlichen Notizen aus der Zelle und durch einige Fotos im Buch bekommt der Leser eine gute Sicht auf Echols Gefühlswelt. Seine Sehnsucht nach einfachen Dingen, Schnee spüren, frisches Obst oder Wiese unter den Füßen. Wünsche, die sich ein Mensch außerhalb von solchen Mauern nur schwerlich vorstellen kann. Der Leser wird im letzten Drittel, endlich, in einen emotionalen Strudel gezogen, wo es nicht mehr darauf ankommt, ob Echols nun schuldig oder unschuldig ist. Wir gewinnen einen tiefen Blick in die Seele eines zum Tode Verurteilten, einen entmenschlichten Menschen, dem die Wärter regelmäßig alles nehmen. Vor allem aber seine Würde.
Am Ende des Weges, nach 18 Jahren, stand für Echols, Baldwin und Misskelly kein Freispruch, sondern der so genannte „Alford Pleas“. Dabei erkennt der Gefangene seine Schuld an, vor allem aber, ohne recht eigentlich die Schuld einzugestehen. Es gibt genügend neue Beweise, um einen neuen Prozess anzustrengen, um das zu vermeiden, bekannten die drei sich schuldig und wurden zu den Strafen verurteilt, die sie bereits abgesessen hatten. Freiheit ohne Freispruch.
Ein Zweifel bleibt also doch, irgendwie, auch wenn man Damien Echols glauben möchte. Glauben muss. Denn wer will schon den Lügen eines dreifachen Kindermörders aufsitzen?
Wenn, dann sind es abschnittsweise literarische Lügen.
Und wie gesagt, wenn alles so stimmt, wie es im Buch steht, hat die US-Justiz nur fette Polizisten, die wegsehen, wenn ein Schwarzer verprügelt wird, oder mitmachen, wenn es drum geht, einen vermeintlichen Satanisten einzulochen.
Sophie Sumburane
Damien Echols: Mein Leben nach der Todeszelle (Life after Death, 2012). Deutsch von Rainer Schmidt. München: Goldmann, 2013. 416 Seiten. 19,99 Euro.