Die beiden Hirnhälften
– Dan Kierans Philosophie des “SlowTravel“! Von Wolfram Schütte.
Eine hymnische Rezension in der SZ hat mich auf Dan Kierans “Slow Travel” neugierig gemacht. “Das schönste Reisebuch des Jahres” war da annonciert worden & wirbt nun bereits auf dem Schutzumschlag für einen aber leider nicht immer gut von Yamin von Rauch ins Deutsche übertragenen siebenteiligen Essay des 1975 geborenen Reiseschriftstellers, der für britische Tages- & Wochenzeitungen arbeitet.
Der deutsche Titel soll bewusst Assoziationen zu “Slow Food” herstellen, zu jener in Italien ins Leben gerufenen gastronomischen Bewegung für eine regionale Küche & ein genussvolles Essen, das sich scharf & entschieden gegen “fast food” wie Hamburger & Pizza abgrenzt.
Dan Kieran gehört zu einer menschlichen Spezies, die in unseren Stress-Gesellschaften in Verruf gekommen, aber noch in GB einigermaßen vertreten ist: die “Müßiggänger”. Das deutsche Wort ist nahezu außer Gebrauch geraten; seine englische Entsprechung “Idler” ist der Titel einer Monatszeitschrift, die Kieran zusammen mit seinem Freund Tom Hodgkinson, der ihm nun auch ein Vorwort zu seinem Buch beigesteuert hat, zehn Jahre lang herausgegeben hat.
Unter dem Müßiggänger Dan Kieran muss man sich einen mittelalten Mann (verheiratet, 2 Kinder) vorstellen, der (als Reisejournalist!) Flugangst hat, zwar seine berühmten Kollegen wie Bruce Chatwin oder Paul Theroux kennt & schätzt, aber als “The Idle Traveller” (wie der englische Titel lautet) als ein Original mit persönlichem “spleen” gelten muss, wie es viele seiner & anderer Art auf den Britischen Inseln gibt. Außerhalb Londons lebend, beobachtet er z.B. mit anthropologischer Lust seine Mitreisenden im Zug, der sich auf Kierans täglicher Reisestrecke zu & von seiner Arbeit in London mit den Flugreisenden füllt & leert, die am Flughafen Heathrow aus- oder einsteigen müssen, während der Reisejournalist zuletzt still vergnügt allein weiterfährt auf dem Weg nachhause.
Zu gerne wüsste ich, wie seine Reisereportagen aussehen – wenn er etwa in seinem Buch davon berichtet, wie er, um nach Madrid zu einem Geschäftstermin & nach Warschau zu einer Hochzeit zu gelangen, sich jeweils auf langwierige Bahnfahrten begibt, während seine Kollegen & Freunde “den Flieger” benutzen & dabei nichts erleben; der “slow-traveller” aber sucht & kommt schnell ins Gespräch mit seinen Zugreisenden – beispielsweise mit einem desertierten Sowjetsoldaten.
Dan Kieran sucht & findet auf seinen Reisen: das Abenteuer. Das kann gewissermaßen vor der Haustür liegen: etwa wenn er sich von den Launen seines kleinen Sohnes treiben lässt, dem er plain pouvoir bei ihren Spaziergängen gibt; oder das Abenteuer kann von den Wetterbedingungen abhängen, wenn er sich zusammen mit einem ihm gleichenden Freund spontan für ein Wochenende zum Adler-Sehen auf der schottischen Hebrideninsel Mull entschließt & sich nicht im geringsten von den Unwetterkatastrophenmeldungen in der vorgesehenen Gegend abhalten, ja sich geradezu davon animieren lässt.
“Konventioneller” ist dagegen eine ebenso exzentrische wie sehr britische “Gemüthsergetzung” (A. Schmidt), die den Rezensenten der SZ aus dem Häuschen brachte (ohne dass er jedoch deren sprachliche Pointe bemerkt hätte).
Eines der berühmtesten englischen Bücher des viktorianischen Zeitalters stammt von dem kleinen literarischen Talent Jerome K. Jerome und beschreibt eine gemächliche Themsereise von “Three Men in a boat”. Dan Kieran tat sich mit zwei Freunden zusammen, um einem beliebten englischen Kalauer – nämlich ein sehr ähnlich klingendes Wortspiel – Wirklichkeit werden zu lassen: “Three Men in a Float” hieß das daraus entstandene Buch. Darin beschrieb er, wie er & seine Kumpel England auf der längsten Strecke zwischen Nordsee und Land´s End in Cornwall in einem elektrisch betriebenen Milchwagen durchquerten, wobei das klapprig-zugige Gefährt so langsam war, dass es zum Vergnügen seiner Reisenden einmal bei einer ländlichen Steigung von einer Hummel überholt wurde.
Da die 3 Männer im Elektromobil immer wieder bei Fremden Strom “tanken” mussten, machten sie die begeisternde Erfahrung vieler hilfsbereiter Leute an ihrer Wegstrecke. Das scheint mir “very british” zu sein, weil man auf der Insel davon ausgehen kann, dass man ohne langes Suchen hinlänglich viele Sympathisanten exzentrischer Verhaltensweisen findet, während man bei uns die kopfschüttelnden Vernünftler in der Überzahl antreffen wird.
Was nichts anderes bedeutet, als dass “auf dem Kontinent” die linke Hirnhälfte stärker entwickelt oder dominanter ist als die rechte – um mit einem Psychiater & Philosophen zu sprechen, den Kieran zu seinen Eideshelfern erklärt, wenn er seine Reise-Philosophie gewissermaßen neurologisch zu begründen sucht. Denn Ian McGildchrist hat in seinem Buch “The Master and His Emissary” der rechten Hirnhälfte alle intuitiven, neugierigen, offenen, abenteuerlustigen menschlichen Neigungen zugesprochen & der linken den Ordnungssinn, das Sicherheitsdenken, das Stationäre & das Rationale.
Das Unglück unseres heutigen Tourismus liegt in dem Widerspruch – behauptet Dan Kieran beim Anblick der leeren Touristengesichter vorm Buckingham Palace –, dass wir gewissermaßen mit den Versprechungen der rechten Hirnhälfte zum Tourismus geködert, aber mit den Erfüllungen der linken abgespeist werden.
Abenteuer im Unvorhersehbaren
Der britische Slow-Traveller hat mit seinem Buch so etwas im Sinn wie James Joyce mit seinem “Ulysses” für der Roman. Ich weiß nicht, wer das literarische Monument des Iren “a novel to end all novels” genannt hat. Dan Kieran, der einige Lektürefrüchte vor seinen Lesern ausbreitet, hat den “Ulysses” aber nicht in seinem Angebot – obwohl der Grieche, wenn auch ungewollt, der Prototyp des Reisenden & Homers Odyssee der erste (Welt-) Reisebericht ist. Joyce´s “Ulysses”, der in & um Dublin & an Land bleibt, verhält sich zu seinem antiken Urbild wie Kierans essayistischen Reise-Überlegungen zu den massenhaften touristischen Verheerungen des Globus. Denen würde der sympathische & “seltsame Heilige”, der vom Hundertsten ins Tausendste lustvoll abschweift, am liebsten den Abgesang schreiben. Der einstmals immer naseweise H.M. Enzensberger hat wohl als erster die verheerende Dialektik des globalen Massentourismus erkannt & beschrieben. Kieran fügt nun diesem Thema hinzu, dass das engl. travel mit der franz. travail (also mit Arbeit) & mit dem lat. trepalium (einem dreizinkenhaften Folterinstrument) verwandt sei.
Dieser Ausflug in die Etymologie soll des Autors Ansicht stützen, wonach sein Slow travelling durchaus auch Arbeit, wenn nicht gar gelegentlich eine Tortur sein kann, um zum Abenteuer im Unvorhersehbaren zu werden & damit (auch Selbst-) Erfahrungs-Intensität zu gewinnen.
Einen leichten Anhauch des Esoterischen verspürt man auch, wenn Dan Kieran den aus Indien stammenden, mittlerweile in England lebenden Guru Satish Kumar & dessen Autobiographie zur Untermauerung seiner Lebensphilosophie heranzieht. Bei genauerem Überdenken aber wird einem bewusst, dass diese ostasiatische Anleihe nichts anderes akzentuiert als den “spleen”, den der Autor auch schon am Beispiel des ausschweifend reichen William Beckford (“Vathek”) oder der Reiselust seiner verwitweten Großmutter beschrieben hatte. Der indische Fußgänger, der inspiriert von dem Anti-Atomprotest des neunzigjährigen britischen Philosophen Bertrand Russel, in den Sechziger Jahren mit einem Gandhi-Gefährten zu einer Globaltour nach Moskau, Paris, London & schließlich Washington aufgebrochen war, um die jeweiligen Staatsmänner der damaligen Atommächte (erfolglos) zur Abrüstung zu bewegen, war dennoch für Kieran “ein Teil des Zeitgeistes der Veränderung, der in den 1960er und 7oer Jahren in der Populärkultur der USA und Europas herrschte”.
Man sieht, wie weit es den sympathischen Autor ins Politische treibt, der immer wieder gegen das streitet, was er “pessimistischen Realismus” nennt & in unserer einseitigen Bevorzugung der linken Hirnhälfte physiologisch verortet. In seiner sanften Polemik gegen das falsche, Sehenswürdigkeiten sammelnde & abhakende, hetzende Reisen der Tourismus-Industrie plädiert er für ein Reisen, das er eine “Meditation aus allumfassender Neugier” nennt. Einfacher gesagt: “Lass Dir Zeit, mach die Augen auf & denk nach über alles, was Dir dabei vor die Nase kommt“.
In der angekündigten Schließung von 200 Hauptfilialen der weltweit agierenden britischen Reiseagentur Thomas Cook meint der Slow-Traveller die Morgenröte einer Zukunft zu erkennen, “dass die Menschen mehr Kontrolle über ihre eigenen Reiseerlebnisse gewinnen”.
Zumindest wird man nachdenklicher – wenn man nach der Lektüre dieser amüsanten “Kunst des Reisens” wieder auf & in den Spiegel blickt.
Wolfram Schütte
Dan Kieran: Slow Travel. Die Kunst des Reisens. Mit einem Vorwort von Tom Hodgkinson. Aus dem Englischen von Yamin von Rauch. Verlag Rogner & Bernhard, Berlin 2013. 223 Seiten, 19,95 Euro. Foto: Quelle.