Geschrieben am 13. November 2013 von für Bücher, Litmag

David Foster Wallace: Der bleiche König

David Foster Wallace_Der bleiche KönigLiterarischer Urknall

– In seinem posthum erschienenen Roman „Der bleiche König“ zeigt der früh verstorbene David Foster Wallace noch einmal auf bewundernswerte Weise sein ganzes literarisches Können und unterstreicht, dass er zu Recht in einer Reihe mit Heroen der amerikanischen Postmoderne wie Thomas Pynchon oder Don DeLillo genannt wird. Von Karsten Herrmann

David Foster Wallace, der im Alter von nur 46 Jahren aufgrund schwerer Depressionen Selbstmord beging, hat in kurzer Zeit ein gewaltiges Werk aus Romanen, Kurzgeschichten und Essays hervorgebracht. Sein 1996 im Original und nach langjähriger Übersetzungsarbeit erst 2009 auf Deutsch erschienener 1500-Seiten-Roman „Unendlicher Spaß“ wurde als „Jahrhundertroman“ gefeiert, mit dem eine neue Zeitrechnung in der Literatur beginne.

Auch wenn David Foster Wallace seinen letzten Roman nicht mehr ganz beenden konnte, zeigt sich dieser dennoch wieder als ein ganz starkes und mutiges Stück Literatur. Dies umso mehr, als er sich dem vermeintlich langweiligsten aller literarischen Sujets widmet. Denn der Roman spielt – hauptsächlich Mitte der Achtzigerjahre – in einem Steuerprüfzentrum des Internal Revenue Service (IRS) in Peoria, Illinois. Eine eigentliche Hauptfigur gibt es nicht, sondern der Roman setzt sich aus kleineren und größeren Erzählfragmenten zusammen, die in sich oftmals schon kleine Kunstwerke sind und sich langsam zu einem kaleidoskopischen Muster zusammensetzen.

Die Menschen in diesem Kosmos sind, wie auch im Gesamtwerk von David Foster Wallace, zumeist beschädigte Figuren mit mehr oder weniger großen Macken und Ticks – so wie Claude Sylvanshine, der frisch nach Peoria versetzt wurde und oft das Gefühl hat: „Was war, wenn mit ihm etwas von Grund auf verkehrt war, das bei anderen Menschen stimmte?“ Auf aberwitzig-kafkaeske Weise erreicht dieser Sylvanshine das Steuerprüfzentrum und führt den Leser in das aus „Stumpfsinn, Information und belangloser Komplexität“ bestehende Paralleluniversum der Bürokratie.

David_Foster_Wallace_Wikimedia_Commons

Intensiv und radikal

In dem ebenso vielstimmig wie enzyklopädisch angelegten Roman lesen wir unter anderem den „Bewerbungsmonolog“ von Chris Foggle, der nach einer Drogenkarriere als „Kaputtnik“ und „Nihilist“ beim IRS anheuert, die Geschichte von Lane Dean Jr., der als Kind nichts weiter wollte, als jeden Teil seinen eigenen Körpers zu küssen und dafür alles opferte, oder jene von Toni Ware, die im White Trash von Trailersiedlungen groß wird und miterleben muss, wie ihre Mutter neben ihr liegend umgebracht wird. Ein humoristisches Glanz- und Gegenstück zu dieser düsteren Episode ist die Geschichte von einem Gutmenschen, der so gut ist, dass ihn alle hassen, da er ihnen ständig ihre eigene Selbstsucht und Unvollkommenheit vor Augen führt.

Auf Seite 78 bringt der Autor sich in seinem Roman schließlich auch selbst ins Spiel und führt den Leser in ein Spiegelkabinett aus Fiktion, Wahrheit und Paradox. Er resümiert: „‚Der Bleiche König‘ ist im Grunde eine nicht fiktionale Autobiographie mit Einsprengseln aus rekonstruktivem Journalismus, Organisationspsychologie, elementarer Staatsbürgerkunde, Steuertheorie usw.“

Darüber hinaus führt David Foster Wallace den Leser mit seitenlangen Paraphrasierungen des Steuer- und BWL-Fachjargons immer weiter in das Herz der Langeweile und spiegelt uns eine entropische Welt, die an ihrer eigenen Komplexität erstickt: „Der Schlüssel, der der Bürokratie vorausgeht, ist die Fähigkeit Langeweile auszuhalten. Effizient in einem Milieu zu funktionieren, das alles Vitale und Menschliche ausschließt. Gewissermaßen ohne Luft zu atmen.“

David Foster Wallace zeigt mit seinem unvollendeten Roman noch einmal, dass er tatsächlich so etwas wie ein Urknall für die Literatur des 21. Jahrhunderts ist. Er zaubert einen sirrenden Kosmos aus den intensivst wahrgenommenen Fragmenten der Welt, spielt radikal mit ihren Farben und Formen, lässt das Absurde und Groteske hervorsprühen und im Witz explodieren. Bei aller dekonstruktiven Postmodernität und dem Collagieren von verschiedensten Genres und Diskursen bleibt er aber vor allen Dingen eines: ein begnadeter Erzähler, der das Material Sprache in aller Fülle auskostet und mit traumhafter Sicherheit zu höchst originellen und fein nuancierten literarischen Welten ausgestaltet.

Karsten Herrmann

David Foster Wallace: Der bleiche König. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag 2013. 632 Seiten. 29,99 Euro. Foto: Wikimedia Commons, Steve Rhodes, Quelle.

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