Geschrieben am 8. Mai 2013 von für Bücher, Litmag

David Vann: Dreck

David_Vann_DreckEs gibt keinen anderen Weg hinaus

– Was hat sich der Autor dabei gedacht? Eine Frage, die vornehmlich von Deutschlehrern gestellt wird. Eine Frage, die man sich eigentlich nicht stellen sollte, trotzdem drängt sie sich auf, wenn man beginnt David Vanns „Dreck“ zu lesen. Was hat sich Suhrkamp dabei gedacht? Sophie Sumburane geht der Frage nach.

Dieser Roman ist rund 300 Seiten stark – dieser Roman ist stark. Doch nicht von Anfang an. Er kippt so ziemlich genau in der Mitte. Vor dem Leser beginnt plötzlich ein Horror, dargestellt an nur so wenigen Figuren wie möglich, an einem einzigen Ort – unvorstellbar. Und es klärt sich die Frage, löst sich auf, ist vergessen. Der zweite Teil ist derart schrecklich, dass eine Kurzbeschreibung der Geschehnisse den Horror des Lesers zerstören würde. Das Buch lebt von den zweiten 150 Seiten.

Doch was ist mit dem ersten Teil des Buches?

Eigentlich gehöre ich zu den Personen, die für eine Rezension ein Buch tatsächlich von vorn bis hinten – ohne Lücken – gelesen haben möchten. Bei diesem Buch habe ich das erste Mal mit dem Gedanken gespielt, das Ding wegzulegen und einen „Verriss“ zu schreiben. Vielleicht noch kurz das Ende lesen … Na ja, mein Stolz hat gewonnen, also las ich weiter, zum Glück!

Der Anfang ist belanglos. Der 22-jährige Galen lebt mit seiner Mutter auf dem Familienerbe, einer Walnussplantage in Kalifornien, zwischen Dreck und Stauden. Er hasst alles. Späte Pubertät? Galen rebelliert gegen seine Mutter, befriedigt sich permanent selbst oder denkt an seinen steifen Schwanz und hasst die immer gleichen, idyllischen Abläufe, die seine Mutter im Andenken an ihre Familie jeden Tag vollführt.

Klingt nach Pubertät, schon oft gelesen.

Auch auf die teils pornografischen Beschreibungen der sexuellen Fantasien und Handlungen des Protagonisten Galen mit seiner 17-jährigen Cousine Jennifer kann man getrost verzichten. Die Machtspielchen zwischen den beiden mittvierziger Schwestern Helen und Suzie-Q um das Geld der dementen Mutter bringen immerhin ein wenig Schwung in die Adoleszenzerzählung. Die verschwommenen Schilderungen einer von väterlicher Gewalt erfüllter Vergangenheit der Schwestern bereiten schließlich die Grundlage für den zweiten Teil.

David_VannComédie_du_Livre_2010

Autor David Vann

Die ersten 150 Seiten zünden also nicht besonders, aber sie sind notwendig. Sie sind gewissermaßen eine Hinführung, eine sanfte Einstimmung. Ohne sie könnte der Leser die Handlungen Galens sowie seiner Mutter Suzie-Q im zweiten Teil des Buches nicht verstehen. Er wäre allein gelassen mit dem Horror.

Galen – wie gesagt – hasst alles. Er strebt nach Transzendenz, will körperlos sein, ist essgestört und ein inkonsequenter Vegetarier, dessen Leibspeise der Hühnereintopf von Oma ist. Er lebt ohne Job, Freundin oder Freunden bei seiner Mutter. Die will ihn nicht gehen lassen, versteckt das Familienerbe, behauptet, es sei kein Geld für ein Studium da, strahlt mit jeder ihrer Taten emotionale Bedürftigkeit aus.

Hat Macht über ihn.

So erklärt sich die Vorstellung der Erbsünde, die in Galen rumort, die Unabwendbarkeit seiner Schuld, deren Grund lange vor seinem Dasein liegt. So erklärt sich der Horror der letzten 150 Seiten.

„Galen wurde das Gefühl nicht los, dass seine Mutter der Feind war. Vielleicht schon sein ganzes Leben“, vielleicht schon davor. Doch statt sein Leben „in die Hand“ zu nehmen, sucht Galen nach Erlösung. Legt sich stundenlang in einen eiskalten Bach, fantasiert sich in körperlose Welten, liest Castaneda und schläft mit seiner Cousine.

In einer kleinen Hütte im Wald, auf der die letzten fünf Mitglieder der Familie Urlaub machen, eskaliert der Streit ums Geld, zerfließt die Macht, zerspringen Visionen und Galen merkt, zurück auf der Plantage, wie weit er zu gehen bereit ist, um seine Fantastereien von der Transzendenz zu erreichen. Seine Mutter ist der Feind, sie will ihn zerstören, um ihrer Idylle Willen – und der Schrecken beginnt.

David Vann schreibt kompromisslos, klar und ohne Rücksicht auf den Leser. Er treibt die Geschichte so unaufhaltsam voran, wie die Ereignisse unabwendbar sind. Dreck, Hitze, Wut und Macht, Gefühle, die scheinbar aus dem Leser kommen, obwohl sie doch den Figuren gehören.

Abscheu, Unwille, Ungläubigkeit ist, was der zweite Teil hervorruft. Und dennoch ist der Leser, so wie Galen selbst, überzeugt, dass es nicht anders enden kann. Es gibt keinen anderen Weg hinaus.

„Dreck“ ermöglicht ein Leseerlebnis, das man so schnell nicht wieder finden wird. Durch die schnörkellose Sprache und die vor dem inneren Auge lebenden Figuren wird das Buch zu einem Stück Literatur, bei dem man nach dem Zuschlagen weiß, was Suhrkamp und der Autor sich dabei gedacht haben.

Sophie Sumburane

David Vann: Dreck. (Dirt). Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. 296 Seiten. Suhrkamp Verlag 2013. 19,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Webseite des Autors. Porträtfoto: Wikimedia Commons 3,0. Autor Esby.

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