Geschrieben am 24. März 2012 von für Bücher, Crimemag

Davide Longo: Der aufrechte Mann

Grandioses Endzeitdrama

– Der hierzulande noch wenig bekannte Italiener Davide Longo hat mit „Der aufrechte Mann“ ein grandioses Endzeitdrama und eine erschütternde Parabel auf den Niedergang seines Landes während der Berlusconi-Ära geschrieben. Von Karsten Herrmann

Im Zentrum von Longos Roman steht Leonardo, ein ehemals erfolgreicher Schriftsteller und angesehener Professor für Literatur. Die Bücher sind sein Reich und Segen, aber auch ein Fluch: „Einige hatte ich zu Bollwerken in meinem Gemäuer gemacht. Andere zu Reisepässen in meinen Ländern. Kompendien dessen, was das Leben war oder hätte sein sollen. […] Ich liebe diese Geschichten unendlich, und doch weiß ich sie verantwortlich für das, was ich bin: ein unzulänglicher Mann.“

Das Italien seiner Zeit ist ein heruntergekommenes, abgeschottetes Land, in dem Anarchie und Chaos Einzug gehalten haben. Leonardo, der auf einem einsamen Bauernhof mit seiner riesigen Bibliothek lebt, verschließt lange Zeit die Augen vor der gefährlichen Entwicklung – auch noch, als marodierende Banden seinen Landstrich erreichen, die Dörfer am Horizont brennen und der Exodus seiner Nachbarn nicht mehr aufzuhalten ist …

Wuchtiges Martyrium

Davide Longo entwickelt seine düstere Geschichte vor mediterraner Kulisse in einer präzisen, kraftvollen Prosa, die mit philosophischen Einsprengseln und poetischen Stimmungsbildern aufgeladen ist: „Der Himmel war voll von einem nordischen Leuchten, unter ihm wogten kleine Nebenbänke schwerelos hin und her.“ Ganz langsam baut er eine bedrohliche Atmosphäre auf, bis die Katastrophe tatsächlich hereinbricht und Leonardo mit seinen zwei Kindern die Flucht ergreift und versucht nach Frankreich zu gelangen.

Es beginnt ein Martyrium, das in seiner Wucht und Unerbittlichkeit in der Literatur seines Gleichen sucht und den Leser an die Grenze des Zumutbaren führt. Stilistisch begleitet Longo diese Phase mit einem Wechsel der Erzählperspektive von der dritten in die erste Person und mit einer reduzierten, fiebernden Prosa.

Schließlich werden Leonardo und seine Kinder von einer Bande Jugendlicher gefangen genommen und in deren Lager verschleppt. Während seine Tochter als Braut des Anführers auserkoren wird, landet Leonardo in einem Zirkuskäfig, in dem schon ein Elefant haust. Auf unsagbare Weise gequält und gedemütigt, beobachtet er aus seinem Käfig heraus wie ein Ethnologe das enthemmte Leben einer bizarren und brutalen Stammesgesellschaft: „Die lästigen Anhängsel des Gedankens hatte sich aufgelöst und dem nackten Bedürfnis Platz gemacht.“

Doch durch ein unerwartetes Fanal der Selbstverstümmelung gelingt Leonardo die Flucht mit seiner Tochter Lucia, dem Jungen Salomon, dem Elefanten und einer Eselin.

Niedergang der Zivilisation

Mit klarem Bezug zur Berlusconi-Ära zeigt Davide Longo in radikaler Weise den Niedergang einer Zivilisation und den Beginn der Barbarei. Sein „unzulänglicher“, tief in der Literatur verwurzelter  Protagonist zeigt sich dabei als der titelgebende „aufrechte Mann“, der seine moralische Integrität auch in der finstersten Hölle bewahrt und das Licht weiterträgt. Am Ende des Romans, der in seiner stilistischen Brillanz und dramatischen Wucht an Cormac McCarthys Meisterwerk „Die Straße“, erinnert, leuchtet so schließlich auch zart die Neugeburt des Menschlichen am Horizont auf.

Karsten Herrmann

Davide Longo: Der aufrechte Mann (L’Uomo Verticale, 2010) Deutsch von Barbara Kleiner. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2012. 480 Seiten. 19,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Homepage des Autors.