Geschrieben am 12. November 2006 von für Bücher, Litmag

Dietmar Dath: Dirac

Quantenphysikalisches Phänomen

Dietmar Dath führt den Leser mit seinem Roman „Dirac“ in ein ebenso faszinierendes wie irritierendes Spiegellabyrinth aus Physik, Philosophie, Poesie und dem ganz normalen Alltagsleben.

Im Zentrum der Geschichte steht David Dalek, der versucht, einen Roman über den Physiker David Dirac zu schreiben. Dieser erhielt 1933 gemeinsam mit Erwin Schrödinger für seine Atomtheorie den Nobelpreis für Physik. Konsequent entwickelte er die Quantenphysik mit ihren weitreichenden philosophischen Implikationen weiter und entdeckte dabei in rein spekulativer mathematischer Beweisführung auch die Antimaterie.

Je tiefer sich David Dalek mit diesem Vorzeige-Wissenschaftler, der unser Weltbild radikal veränderte, auseinander setzt, desto mehr verliert er den Kontakt zum Leben und zu seiner Clique aus symbolhaften Mitdreißigern. Diese setzt sich aus der Künstlerin Johanna, dem Psychiater Christof, dem Informatiker Paul und dessen junger Freundin Nicole zusammen, die am Rande des Wahnsinns und des Autismus als Einzige einen ganz unmittelbaren Weltzugang besitzt.

Sie alle fühlen sich einer physikalisch wie existentiell bodenlosen Welt ausgesetzt und mussten auf schmerzhafte Weise erfahren, wie ihre Träume und Utopien der Jugend geplatzt sind: „Es ist nix draus geworden, so viel steht fest: Die Sowjetunion ist weg, Punk ist Retrochic …, die RAF Kunstgeschichte, die Vernunft ist das, was ein Anlageberater nutzt, um die aussichtsreichsten Fondspakete zu schnüren.“

Mit verschiedenen Lebensentwürfen, deren Vorläufigkeit ihnen immer bewusst bleibt, versuchen Daths Protagonisten sich dem Leben und der Liebe zu stellen, ohne sich in einer unter dem Diktat des Kapitals stehenden Welt selbst zu verraten. Es geht dabei, wie Dietmar Dath im Nachwort zu seinem Roman erläutert, um eine „bestimmte Haltung zum Leben in der Mo-derne … und zum Problem der Wahrheitsfindung“.

Unzählige Prosa-Miniaturen

Dietmar Dath setzt seinen Roman aus unzähligen Prosa-Miniaturen zusammen, die auf wechselnden Raum-Zeit-Ebenen virtuos zwischen den verschiedenen Wissenschafts-, Pop- und Alltagsdiskursen wechseln und mit einer Vielzahl von Anspielungen und Spiegelungen aufgeladen sind. So erscheint dem Leser dieser Roman fast selbst wie ein flirrendes quantenphysikalisches Phänomen: Je genauer man dabei die eine Eigenschaft versucht zu bestimmen, desto ungewisser wird der Status der anderen.

Wie das Leben fließt und springt Daths Roman als ständiger „work in progress“ dahin und lässt die Grenzen zwischen Leben, Kunst und Theorie zunehmend verschwimmen. In exemplarischer Fortführung davon ist im Internet unter johannarauch.de so auch ein erhellendes Interview des Autoren mit seiner Romanfigur (!) Johanna Rauch zu lesen, in dem er eine erkenntnistheoretische und handlungspraktische Schlussfolgerung aus seinem schriftstellerischen Modellversuch zieht: „Man muss einerseits nach dem handeln, was man weiß, aber man darf andererseits nie vergessen, dass man längst nicht alles weiß.“

Karsten Herrmann

Dietmar Dath: Dirac. Suhrkamp 2006. 383 Seiten. 19,80 Euro.