Wie Hass entsteht
Simon Michailovic, geboren im bosnischen Foce, lebt seit 1969 in Berlin. Dort hat er auf einer der vielen Demonstrationen jener Jahre seine Frau Barbara kennen- und lieben gelernt. Zusammen haben sie einen Sohn Sascha, der Anfang der neunziger Jahre das Haus verlässt. Simon und seine Barbara sind sich mit den Jahren fremd geworden, vor allem auch deshalb, weil sich, wie Barbara sagt zwischen ihnen „immer mehr diese verdammte Stadt Foca geschoben hat“.
Sie ermuntert ihren, unter den Nachrichten aus Bosnien leidenden Mann doch einmal wieder in seine Heimat zu fahren. Mit großer Neugierde, auch Vorfreude, beginnt Simon diese Reise. „Die Welt ist wie eine Pflaume, eine schöne reife Pflaume“, sagt er sich mehrmals.
In Foca angekommen, fühlt Simon sich zwar in dem elterlichen Haus heimisch, auch wenn die Eltern inzwischen verstorben sind. Alles andere aber ist ihm fremd, sogar unheimlich geworden. Alte Freunde schwafeln für Simon unerträgliches, national-serbisches Zeug oder ahnen, wie die muslimischen Freunde, dass bald Schreckliches passieren wird. „Gott steh uns bei“, murmelt ein alter Bauer. Hinzu kommt, dass innerhalb kurzer Zeit in Foca drei enge Freunde von Simon aus seinen Kindheits- und Jugendjahren zum Teil barbarisch getötet werden. Schnell wird er als Täter verdächtigt, weil die Tatzeit und seine Anwesenheit am Ort zusammenfallen.
In dieser Zeit der Verdächtigungen und der vollkommenen Irritation über die vergiftete Athmosphäre in seiner bosnischen Heimat, kommt es aber auch zu einer Wiederbegegnung mit Enver, einem alten muslimischen Jugendfreund. Enver, der inzwischen zu einem weisen, islamischen Gelehrten geworden ist, verwickelt Simon in lange nächtliche Dispute. Unter anderem versuchen die Beiden die biblische Figur des Verräters Judas zu fassen. Auch Enver wird ermordet, lebt aber weiter im ‚unterirdischen Zwischenreich ‚Barzakh’, wo sich die Seelen der seit Jahrhunderten Ermordeten versammeln.
Die Morde werden nicht aufgeklärt, aber sie dürften der Anlass sein für die Explosion der Gewalt, von der ganz Bosnien dann im Verlauf der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erschüttert wurde und deren Wunden bis heute noch nicht verheilt sind. „Ich muss verstehen“, sagte Karahasan jüngst bei der Präsentation seines Buches, „ wie es dazu kam, dass ich auf einmal meinem Nachbarn, meinem gestrigen Freund oder Gesprächspartner nicht mehr akzeptabel war.“
Genau das ist das zentrale Thema des ‚nächtlichen Rats’.
Während man den chronologischen Faden bei der Lektüre dieses Romans von Dzevad Karahasan zwischen Realhandlung und ‚mystischer Welt’ leicht verliert, beschenkt der Autor seine Leser immer wieder durch sehr genaue, vor allem ungemein reflektierte Beschreibungen von kleinen Alltagsdetails. Zum Beispiel meditiert er lange über die Bedeutung der Handinnenfläche, in die gläubige Muslime bei der Bestattung ihrer Angehörigen blicken. Eine lange Abhandlung ist den verschiedenen Formen von Bärten gewidmet. Herrlich die minutiöse Schilderung eines alten Barbiersalons, von großer sinnlicher Kraft die Eloge auf das bosnische Nationalgericht Burek. Vor allem aber, und das ist das Wichtigste an allen Veröffentlichungen von Dzevad Karahasan, lernen wir mit ihm einen Intellektuellen kennen, der wie nur wenige humanistische Philosophie, christliche Überlieferung des Koran, die arabische und europäische Poesie zu verbinden vermag.
‚Multikulti’ ist bei uns zu einem vollkommen inhaltsleeren oder polemisch eingesetzten Schlagwort verkommen, dass man es nicht mehr hören kann. Intellektuelle und Schriftsteller wie Dzevad Karahasan aber zeigen uns, wie sehr wir der ‚Luftzufuhr’ aus möglichst vielen Kulturen bedürfen, um nicht an Provinzialismus, Nationalismus und noch schlimmer, an ‚ethnischem Hass’ zu ersticken. Karahasan hat während der mörderischen Belagerung von Sarajewo in dieser Stadt gelebt und gezittert. Er weiss wovon er nicht aufhört zu reden und zu schreiben.
Carl Wilhelm Macke
Dzevad Karahasan: Der nächtliche Rat. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Insel-Verlag, Frankfurt am Main u. Leipzig, 2006, Geb. 335 S. 19,80 Euro, ISBN: 3458172912