Geschrieben am 22. August 2012 von für Bücher, Kunst, Litmag

Elke Heidenreich/Tom Krausz: Dylan Thomas

Turbulente Akzeptanz

– In ihrem herrlichen Bildband (mit Fotos von Tom Krausz) über Dylan Thomas begibt sich Elke Heidenreich an markante Schauplätze aus dem Leben des genialen walisischen Dichters und betreibt eine einfühlsame biografische Spurensuche. Von Peter Münder

Das Leben als unendliche, inspirierende, aber auch deprimierende hochprozentige Kneipentour, mittendrin der junge geniale Verseschmied als walisischer Rimbaud – das ist die Vorstellung, die wir uns heute vom früh (mit 39 Jahren) verstorbenen Dylan Thomas (1914–1953) und seiner fragilen Künstlerexistenz machen. Sein Hörspiel „Under Milk Wood“ – eine walisische Variante von Thornton Wilders bühnenwirksamen Kleinstadt-Impressionen „Our Town“ von 1938 – ist heute fast vergessen, seine bekanntesten Gedichte, darunter „And death shall have no dominion“ („Keine Macht dem Sensenmann“) und der melodramatische Abgesang auf seinen Vater „Do not go gentle into that good night“ („Geh nicht gelassen in die gute Nacht“) sind allerdings immer noch Evergreens.

Wer die vom begnadeten Rezitator Thomas deklamierten Verse hört (vgl. youtube-Aufnahme!), wird sie nicht so leicht vergessen: Welcher Dichter hatte schon einen solchen opernhaft klingenden, ins Mark gehenden Bariton, der direkt ins emotionale Zentrum dringt? Auf seinen vier Vortragsreisen durch die USA zwischen 1950 und 1953 begeisterte er die Zuhörer sicher auch, weil ihm der Ruf eines exotischen, trinkfesten Bohemiens vorauseilte und er dementsprechend bewundert wurde. „Es muß doch mehr als alles geben“ war offenbar sein Wahlspruch gewesen und dieses Maximum an Hedonismus konnte Thomas vor allem in den USA voll auskosten.

Kein Wunder, dass ihm seine eifersüchtige Frau Caitlin diese Joyrides immer ausreden wollte. Denn hochprozentige Getränke waren immer und überall im Angebot, die Mädels entpuppten sich meist als willige Groupies und die Zuhörer waren ohnehin entzückt über diese markige und doch so sensible Stimme des Walisers, auch wenn sie nicht immer genau begriffen, worum es dem Barden eigentlich ging.

Faszinierender als irgendeine bedeutungsvolle Thematik war Dylan Thomas immer das sprachliche Klangwunder. Dylan war ja kein Beat-Protestler mit gesellschaftskritischen Überzeugungen wie etwa Allen Ginsberg: Er besang den Buckligen im Park ebenso innig wie „das Schlagen der Götter auf Wolken“ oder „mein Handwerk, meine Kunst“.

Natürlich schrieb er auch über das Trinken, das für ihn schon als junger Dachs ein wichtiger Initiationsritus war: Bei einem seiner ersten Kneipenbesuche, den er im „Portrait of the artist as a young dog“ (James Joyce lässt grüßen!) beschreibt, fragt er sich, was wohl sein Vater vom biertrinkenden Sohn halten würde. Und dann seziert er wie ein sendungsbewusster Advokat des Bierreinheitsgebots mit akribischer Lust am alkoholgesättigten Detail die Feinheiten des Trinkens: „Mir gefiel der Geschmack von Bier, sein lebendiger, weißer Schaum, seine kupferhellen Tiefen, die plötzlichen Welten, die sich durch die nassen braunen Glaswände hindurch auftaten, das schräge Anfluten an die Lippen und das langsame Schlucken hinunter zum verlangenden Bauch, das Salz auf der Zunge, den Schaum im Mundwinkel.“ Selbst der „heilige Trinker“ Joseph Roth hätte diesen Vorgang des „Anflutens“ nebst Annäherung des fließenden Gebräus an den „verlangenden Bauch“ nicht verständnisvoller darstellen können.

Ein sensibler Zerrissener

Zweifellos war Dylan Thomas ein sensibler Zerrissener, der sich nur im walisischen Feuchtbiotop richtig entfalten konnte und vom Meer, den kleinen Dörfern, den verräucherten Pubs und den schrulligen Käuzen zwischen Swansea und Laugharne entzückt und stark beeinflusst war. Nur reicht der Blick auf einige dieser Schauplätze oder auf einige Gedichtzeilen natürlich nicht aus, dem rätselhaften Dylan Thomas auf den Grund zu gehen.

Elke Heidenreich lässt sich bei ihrer Spurensuche auf die meisten Facetten in Leben und Werk dieses walisischen Rimbauds ein: Die wichtigsten Gedichte werden komplett (zweisprachig) zitiert, immer noch malerisch wirkende Pubs und Schauplätze am Meer, auch das berühmte Boathouse – wunderbar von Tom Krausz fotografiert – hat sie besucht und die Feinanalysen etlicher Gedichte, Aufsätze, Kurzgeschichten und Passagen aus dem Hörspiel „Under Milk Wood“ betreibt sie mit bewundernswertem Einfühlungsvermögen. So wird der Leser auf einer Ideallinie zwischen Werk, Biografie und wichtigen Schauplätzen mitgenommen, um einen fundierten Überblick zu erhalten, ohne dass ihm etwa die Perspektive einer schwärmerischen Denkmalpflegerin aufgedrängt würde.

Thomas schrieb ja spontan über alles und jedes, aber wenn er erläutern sollte, was ihm die Lyrik bedeutete, dann antwortete er: „Die Freude und die Funktion der Lyrik liegt darin, den Menschen zu feiern, und das bedeutete immer, Gott zu preisen … Aber ich habe keine Philosophie. Ich glaube an die universale, turbulente Akzeptanz, was nichts anderes besagen will, als dass ich lebe.“

Als Lehrersohn 1914 in Swansea geboren, besuchte er dort die Oberschule und schrieb seine Gedichte schon als Schüler. War ihm der Unterricht zu langweilig oder überkam ihn die Inspiration, dann ging er zum Dichten einfach nach Hause, was vom verständnisvollen Direktor sogar akzeptiert wurde. Da Dylan Thomas Redakteur der Schülerzeitung war, in der er auch seine Gedichte veröffentlichte, half es ihm nach dem Schulabgang (ohne Abschluss), einen Reporterjob beim Lokalblatt „South Wales Daily Post“ zu bekommen. Sein genauer Blick für Details und komische Situationen, seine gelungenen Figurenbeschreibungen und Dialoge: Sie alle sind in den „Portrait of the artist“-Kurzgeschichten gut zu erkennen. Er war zweifellos ein talentierter Reporter.

Dann zieht er 1934 nach London, als seine ersten Gedichte dort in Magazinen veröffentlicht wurden. Die zwei Jahre in Redcliff Gardens mit zwei trinkfesten Kumpeln waren eine grandiose Sauforgie, die Thomas für das Schreiben nur gelegentlich unterbrach. In dieser turbulenten Phase des Perma-Suffs, die an wildeste Exzesse aus Hemingways oder Scott Fitzgeralds Pariser Zeit erinnert, lernt Thomas die grünäugige irische Tänzerin Caitlin MacNamara kennen. Sie wolle er heiraten, erklärt er sofort, sie sei seine große Liebe – und schon ist er nach der Heirat 1937 mittendrin in einem Ibsen-Drama, in dem der Ehezwist wie ein Totentanz zelebriert wird und sich beide in einer Art Sadomasokult quälen.

Er kann seine Affären nicht in den Griff bekommen und versäuft das kümmerliche, bei der BBC verdiente Honorar, was sie nicht akzeptieren kann. Caitlin entpuppt sich bald als unbezähmbare Furie, während Thomas versucht, mit Ausreden, Lügen und Verdrängungsmechanismen alle brutalen Wahrheiten wegzuzaubern. Die hemmungslose Irin brachte es sogar fertig, den sensiblen Verseschmied mehrmals K.o. zu schlagen und ihn gnadenlos zu verprügeln.

Düstere Aspekte von Thomas‘ Charakter bleiben unerwähnt

Kann Dylan Thomas also als Beweis für Freuds Kompensationsthese herhalten? Musste er seine Lebensuntüchtigkeit mit seinen fabelhaften Klanggebilden und der Anerkennung einer bewundernden Leserschaft kompensieren? Was trieb ihn eigentlich an? Konnte er noch andere Motive und Themen außerhalb seines walisischen Mikrokosmos anvisieren?

Die großen charakterlichen Defizite des Walisers möchte Elke Heidenreich offenbar nicht zur Kenntnis nehmen, vielleicht sind ihr auch die neuesten Biografien über Thomas nicht bekannt. Seine drei Kinder wollte er am liebsten gar nicht sehen, weil er sie nicht mit Caitlin teilen wollte. Und seine Gönner, die ihn mit Geld unterstützten und für ihn Wohnungen besorgten, beschimpfte, bestahl und verhöhnte er. Thomas ging sogar so weit, wie Andrew Lycett in seiner Biografie 2003 enthüllte, dass er seine Mäzenatin Margaret Taylor, die Frau des berühmten Oxford-Historikers AJP Taylor, als dumpfe Nymphomanin titulierte, die ihn unbedingt ins Bett zerren wollte – was absolut abwegig war. Denn sie hatte dem völlig verarmten Dichter einfach nur helfen wollen und ihm Quartiere in Wales und Oxford besorgt, die er sonst nie bekommen hätte. Offenbar war der von Wohltätern abhängige Dichter über seine Lage so frustriert, dass er seine Aggressionen auf diese Gönner fokussierte.

Bisher waren sich die Thomas-Experten darüber einig, dass Thomas ein typischer Alkoholiker war. Er war ja auf seiner New Yorker Lesereise während der „Milk Wood“-Proben zusammengebrochen und gestorben, nachdem er angeblich achtzehn doppelte Whiskys getrunken und sich noch gebrüstet hatte („Ich glaube, das ist ein Rekord“). Nachdem sich der amerikanische Arzt James Nashold mit den Umständen von Thomas‘ Tod („The Death of Dylan Thomas“, 1997) und den Behandlungsmethoden des dubiosen Greenwich-Village- Modearztes Feltenstein beschäftigt hatte, der damals bei drogensüchtigen Künstlern und Alkoholikern in New York beliebt war und Thomas behandelte, stellte sich heraus, dass dieser schon lange Diabetiker war, sich aber nie behandeln ließ.

Der Quacksalber Feltenstein hatte dem Barden Kortison gespritzt und Benzedrin verabreicht – in Kombination mit achtzehn doppelten Whiskys war dies natürlich absolut fatal und hatte direkt zum Exitus geführt. Sicher war Thomas ein passionierter Trinker, aber eine gute medizinische Behandlung seiner Diabetes hätte dem Dichter einen enormen Leidensdruck erspart und sein Leben sicher um etliche Jahre verlängert.

Doch seinen Hang zur Realitätsflucht hätte er wohl weder stocknüchtern noch volltrunken jemals in den Griff bekommen. „Die Theke ist lang, das Leben kurz“ – das ist natürlich eine banale, triste Quintessenz für auf eine „turbulente Akzeptanz“ fixierte Künstlerexistenz.

Diese düsteren Aspekte bleiben in dem Bildband unberücksichtigt. Dennoch ist es Elke Heidenreich gelungen, aus Textanalysen, biografischen Eckdaten und wichtigen Schauplätzen – illustriert mit den stimmungsvollen Fotos von Tom Krausz – eine einfühlsame, beeindruckende Würdigung dieses immer noch rätselhaften, diffusen Phänomens Dylan Thomas zu produzieren.

Peter Münder

Fotos: Tom Krausz / Knesebeck Verlag

Elke Heidenreich, Tom Krausz (Fotos): Dylan Thomas. Waliser. Dichter. Trinker. Knesebeck Verlag 2011. 160 Seiten. 29, 95 Euro.
Vgl. auch Andrew Lycett: Dylan Thomas: A Life. Weidenfeld, London 2003. 448 Seiten. 20,00 Pfund.
James Nashold, George Tremlett: The Death of Dylan Thomas. Edinburgh 1997.

 

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