Emir Suljagic: Srebrenica – Notizen aus der Hölle
– Aus aktuellem Anlass erinnert Carl Wilhelm Macke an ein erschütterndes Buch, das bereits Ende 2009 erschienen ist und fragt sich bei der Lektüre des Berichts über diesen Symbolort des Schreckens, ob Srebrenica vielleicht sogar irgendwann einmal zu einem Symbolort des Friedens auf dem Balkan werden kann. Die Verhaftung von Ratko Mladic‘ steht nicht am Ende dieses Prozesses, sondern ist immer noch ein wichtiger Schritt auf einem noch langen Weg.
Während der Belagerung von Srebrenica wurden alle Briefe, die die Stadt verließen oder die hereinkamen, zensiert. Nicht die Truppen des serbischen Generals Mladic waren für diese Zensur verantwortlich, sondern das örtliche Büro des Internationalen Roten Kreuzes. Es wurden immer wieder ganz bestimmte Wörter unleserlich gemacht, die zusammen gelesen das ganze Drama dieses größten Massenverbrechens in Europa nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs widerspiegeln: „Armee, umgebracht, umgekommen, Cetniks, erschossen, abgemetzelt, gefangen genommen, Hunger, Schwarzhandel, Verbrechen, Prostitution, Verzweiflung.“
In jedem einzelnen dieser Wörter ist die Tragödie von Srebrenica unendliche Male enthalten. Egal welche Stelle man in den Notizen aus der Hölle von Emir Suljagic auch aufschlägt, immer kommt man sofort auf eines dieser zensierten Wörter. Verbrechen, Verzweiflung, Erschießung …
Was der Autor, der das unvorstellbare Glück hatte, als Dolmetscher für die UN-Truppen die Hölle der Tage um den 11. Juli 1995 zu überleben, in seinen Aufzeichnungen berichtet, ist in manchen Passagen so schwer erträglich, dass man immer wieder das Buch beiseite legen muss. „Die serbischen Soldaten hatten (den Fahrer meines Schulbusses) an eine Wand gestellt und waren mit dem Bus so lange in ihn hineingefahren, bis er starb … Sie stießen den Menschen Gewehrläufe in den Mund … Diese Menschen lagen stundenlang blutend und sich krümmend auf Waldwegen, bevor sie ihr Leben aushauchten …“ Nein, die Lektüre dieses Buches ist nicht leicht. Eine einzige Zumutung für denjenigen, der noch an das Gute im Menschen glaubt. Aber wer der Konfrontation mit den Gewaltexzessen im Verlauf der Auflösung des alten Jugoslawien in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht ausweichen will, kommt an diesen Notizen von Suljagic nicht vorbei. Wie konnte es zu diesem Ausbruch an purem Hass kommen? Warum konnte niemand die Soldateska an ihrem Morden hindern? Warum hat die UN hier so kläglich versagt?
Tiefe Erniedrigung
Zwei Augenzeugen der Massenhinrichtungen von Srebrenica haben ihre Erfahrungen inzwischen aufgezeichnet und als Bücher veröffentlicht. Beide arbeiteten längere Zeit als Dolmetscher bei den UN-Schutztruppen. Beide gehören zu den bosnischen Muslimen, denen der ganze Hass der damals von Radovan Karadzic und Ratko Mladic geführten bosnischen Serben galt – und auch heute noch gilt. Während aber das Buch von Hasan Nuhanovic bis heute nur in einer englischen Fassung vorliegt, wurden die Aufzeichnungen von Emir Suljagic 2009 von Katharina Wolf-Grießhaber ins Deutsche übersetzt. Gleichzeitig erschienen in einem anderen Verlag die Recherchen von Germinal Civikov, der u. a. für die „Deutsche Welle“ jahrelang vom Haager Kriegsverbrechertribunal berichtet hat (Srebrenica. Der Kronzeuge, Promedia Verlag). Civikov äußert erhebliche Zweifel an den Aussagen eines Kronzeugen, die bislang als Grundlage des Prozesses galten. Die Legitimität dieses Verfahrens in Den Haag soll damit erschüttert werden. Da an den kriegerischen Konflikten im Zerfallsprozess Jugoslawiens verschiedene, miteinander „bis aufs Blut“ verfeindete Volksgruppen („Ethnien“) beteiligt waren, existieren von den Ereignissen immer auch extrem unterschiedliche Interpretationen. Ständig werden Täter und Opfer neu definiert, Wahrheiten bis ins Gegenteil umgedreht, Zahlen manipuliert.
Unter diesem Vorbehalt stehen auch die Erinnerungen von Suljagic, in denen „natürlich“ die Erfahrungen der muslimischen Opfer der Verbrechen von Srebrenica im Mittelpunkt stehen. Dass er immer wieder von „den Serben“ als den Schuldigen der barbarischen Handlungen spricht, registriert man als Leser oft mit Befremden. Waren es nicht ganz bestimmte serbische Soldaten, die sich an den Massakern beteiligten, und muss man nicht die Verantwortlichen immer auch genau bei ihrem Namen nennen? Wie soll sich bei „den Serben“ in ihrer Haltung zu den Kriegsverbrechen etwas ändern, wenn sie alle immer wieder in einem Atemzug mit den extremen Nationalisten genannt werden? Waren „die Deutschen“ an den Verbrechen der Deutschen Wehrmacht in Osteuropa schuldig? Aber diese Differenzierung ist doch nur von Bedeutung für eine juristische Aufarbeitung der Vertreibungen, der Vergewaltigungen, der Hinrichtungen im Verlauf der Kriege. Muss sich auch ein Schriftsteller, Dolmetscher und Journalist in seinem Bericht an diesen Kriterien orientieren?
Chance für ein friedliches Zusammenleben?
Bei aller Parteinahme für die Opfer, zu denen auch engste Familienangehörige und Freunde gehörten, wirft Suljagic aber auch einen kritischen Blick auf sich selbst, auf die Opfer, die den Tätern ähnlich geworden sind. „Es war auch ein sicheres Zeichen, dass wir den Serben immer ähnlicher wurden, dass wir allmählich sie wurden, beziehungsweise so, wie sie uns haben wollten.“ Vielleicht liegt in diesem Blick in den Spiegel auch eine kleine Chance für eine Veränderung im friedlichen Zusammenleben der Volksgruppen auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien. Nicht durch eine Egalisierung der Verantwortung für die größeren und kleineren Verbrechen, sondern durch den Versuch, die Gewalt und den Hass durch Selbstkritik langsam zu überwinden. Das Buch von Emir Suljagic zeigt auch, wie tief sich die erlebte Erniedrigung durch das Militär der serbischen Bosnier in die Erinnerung der Muslime eingegraben hat. Durch gute Worte allein wird man sie nicht vergessen können. Aber gibt es heute nicht auch einen friedlichen Modus Vivendi zwischen verfeindeten Ländern nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs? Man unterbricht die Lektüre des Buches nicht nur wegen der schwer erträglichen Schilderungen von Gewaltexzessen. Oft fragt man sich auch, ob dieses Dokument über einen Symbolort des Schreckens dazu beitragen kann, dass Srebrenica vielleicht sogar irgendwann einmal zu einem Symbolort des Friedens auf dem Balkan wird. Die Verhaftung von Ratko Mladic‘ steht nicht am Ende dieses Prozesses, sondern ist immer noch ein wichtiger Schritt auf einem noch langen Weg.
Carl Wilhelm Macke
Emir Suljagic: Srebrenica – Notizen aus der Hölle. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Zsolnay Verlag 2009. 238 Seiten. 17,90 Euro.