Stranded People
Carl Wilhelm Macke über Fabrizio Gattis große Reportage über die Flucht auf der „Sklavenpiste“, die quer durch Afrika bis nach Europa führt.
In allen Ländern Europas ist in den letzten Jahren eine ganz neue soziale Schicht entstanden, mit deutlich spürbaren Auswirkungen in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein. Und das Paradoxe an dieser anhaltenden Entwicklung ist ihre gleichzeitige „Unsichtbarkeit“. Ohne die Arbeit der illegalen Einwanderer ist der Lebensstandard in der Mehrzahl der europäischen Länder überhaupt nicht aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wächst in Europa aber auch eine aggressive Stimmung gegen „die Fremden“, vor allem aber gegen die illegal nach Europa geflüchteten Menschen aus den ärmsten Ländern Afrikas oder auch aus osteuropäischen Gegenden. Umstände also, in denen Vorurteile wie in einem Treibhaus wachsen und gedeihen.
Wer aber sind diejenigen, die die oft unvorstellbaren Qualen einer langen Flucht aus einem afrikanischen Land auf sich nehmen, die ihre Angehörigen verlassen, die den Schlepperbanden irrwitzige Schutzgelder zahlen, um nach Europa zu kommen – oder eben auch nicht? Es waren genau diese Fragen, die den italienischen Journalisten Fabrizio Gatti angetrieben haben, sich einmal selbst auf diese Fluchtroute – er nennt sie „Sklavenpiste“ – quer durch Afrika zu begeben. Sich unter oft abenteuerlichen Bedingungen an einen Fluchtkonvoi zu hängen und so am eigenen Körper die Torturen zu spüren, die jeder vor der Misere seiner Herkunft und in eine angeblich glücklichere Zukunft in Europa Flüchtende zu ertragen hat.
Verrat an allen großen Idealen
In der Übersetzung von Friederike Hausmann und Rita Seuß ist jetzt seine grandiose Reportage von den Qualen eines unendlich langen Fluchtwegs erschienen, beginnend im Senegal, durch den Süden Malis, quer durch Niger bis an die Südgrenze Libyens, dann über das Meer bis auf die italienische Insel Lampedusa. Da die besonders für ihre Brutalität und Korruptheit bekannte und gefürchtete libysche Grenzpolizei Gatti nicht ins Land gelassen hat, war er gezwungen, seine Pläne zu ändern. In der ersten Person erlebte er dann die Umstände dieser Armutsflucht von einem Kontinent zum anderen erst wieder in einer tunesischen Hafenstadt, wo die fast immer jungen Flüchtlinge auf die rostigen Kähne – gegen hohe Zahlungen an dubiose Schlepper versteht sich – verteilt werden.
Die Überfahrt hat Gatti nicht mitgemacht, aber in einer filmreifen Aktion hat er es geschafft, sich unter dem Namen „Bilal“ in das Aufnahmelager von Lampedusa hineinzuschmuggeln. Die Zustände dort seien, so schreibt Gatti an einer Stelle, „ein Verrat an den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. Schwer zu ertragen sind seine Schilderungen über den erniedrigenden, offen rassistischen Umgang mit den hier lebenden Flüchtlingen.
„Hier sind hehre mitmenschliche Gefühle fehl am Platz. Nichts mehr von der einigenden Kraft des Bewußtseins, das aus allen Erdenbürgern freie Menschen macht … Hinter diesem Tor gelten nur noch staatliche Abkommen. Die Lügen ihrer Regierungen. Der Verrat ihrer Parlamente. Hinter diesem Tor sind wir keine Individuen mehr. Wir sind nur noch das, was wir sind.“
Harte Worte, die an manchen Stellen seiner Reportage auch etwas überzogen, pathetisch wirken. Aber als ein im Ohrensessel sitzender Leser sollte man sich mit einem den Ton des Autors kritisierenden Urteil zurückhalten. Und wen, mal ehrlich gesagt, bewegen denn die in den Fernsehnachrichten gezeigten Bilder mit den Flüchtlingsschiffen wirklich noch? Wir vertrauen, wenn wir es gut meinen mit den geflüchteten Illegalen, den professionellen Helfern karitativer Vereinigungen, die sich schon um die „stranded people“ kümmern werden. Und irgendeine Lösung werden die Politiker in den europäischen Anrainerstaaten oder in Brüssel schon finden, um die Probleme mit den illegalen Flüchtlingen zu regeln.
Um viele Desillusionen reicher
Dass dieses Buch an den politischen wie wirtschaftlichen Verhältnissen etwas ändert, die die Menschen dazu bringen, nur noch von einem anderen, besseren Leben zu träumen, als sie es Tag für Tag ertragen müssen, wäre eine Illusion, die sich auch der Autor nicht macht.
„Meine Hoffnung ist es, daß die Leser meines Buches, wenn sie in Berlin, München, Wien oder Mailand neben einem afrikanischen Freund sitzen, in ihm nicht nur den Migranten sehen, sondern einen Helden, weil dieser Mensch so eine gefährliche und schwere Reise überlebt hat.“
Vielleicht erreicht die anklagende Wucht von Bilal, mit der sich Gatti nebenbei auch große Verdienste zur Ehrenrettung des klassischen Reportagejournalismus gemacht hat, aber tatsächlich auch einen größeren Leserkreis, der nach der Lektüre in Zukunft sehr viel hellhöriger sein wird, wenn wieder in irgendwelchen Sonntagspredigten die hehren Werte Europas beschworen werden. „Die Wahrheit“, schreibt Gatti, „verbirgt sich immer hinter der Maske der offiziellen Verlautbarungen.“ Und schaut man einmal hinter die Masken, dann wird man mit vielen menschlichen Tragödien und Verzweiflungen konfrontiert. Nein, aufgemuntert und hoffnungsvoll legt man dieses Buch wirklich nicht beiseite, aber um viele Desillusionen reicher.
Carl Wilhelm Macke
Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa
(Bilal. Viaggiare, Iavorare, morire da clandestini, 2008)
Aus dem Italienischen übersetzt von Friederike Hausmann und Rita Seuß.
Antje Kunstmann Verlag 2009. 457 Seiten. 24,90 Euro.
| Fabrizio Gatti im Gespräch im Deutschlandradio
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