Das magische Jahr 1913
– Das Jahr 1913 bildet in der Weltgeschichte ein magisches Jahr: Es ist das Jahr bahnbrechender Werke in Literatur, Kunst, Musik, Philosophie und Wissenschaft, es ist aber auch das Jahr, in dem schon dunkle Kriegswolken heraufziehen und das kommende Verhängnis in Europa ahnen lassen. 1913 ist der entscheidende Moment zwischen Tradition und Moderne, zwischen einem „nicht mehr“ und einem „noch nicht“, zwischen Triumpf und Untergang. Von Karsten Herrmann
Dieses magische Jahr 1913, dieser „Sommer des Jahrhunderts“, steht im Fokus des neuen Buches von Florian Illies, dem ehemaligen Feuilletonchef von FAZ und Der Zeit. In einem Kaleidoskop von eleganten Miniaturen lässt er die wohl unvergleichliche Dynamik und Spannung dieses Jahres auf allen gesellschaftlichen Ebenen spürbar werden. Es ist die „ungeheure ungleichzeitige Gleichzeitigkeit, die das Jahr 1913 vor allem ausmacht“ konstatiert Florian Illies.
Zwischen Berlin, München, Wien, Prag und Paris wuchern so die Boheme- und Avantgardebewegungen hervor, provozieren und begeistern, feiern sich in ihren Organen „Der Sturm“, „Die Fackel“ oder „Die Aktion“. Im Zentrum steht allerdings „Berlin, diese pochende Überforderung“, wo sich die expressionistischen Dichter im „Café des Westens“ tummeln und Ernst Ludwig Kirchner seine Gemälde malt, die „den Ruß der Metropole wie eine Firnis auf der Stirn“ tragen. „Traumgestalt“ und „Sehnsuchtsobjekt“ ist hier Else Lasker-Schüler, die „Verkörperung des inneren Orients einer in die Moderne hetzenden Gesellschaft“.
Ungeheure simultane Dynamik
In Wien ist derweil Kaiser Franz Joseph seit 1848 an der Macht und im Park von Schönbrunn könnten sich im Frühjahr der unter falschem Namen reisende Stalin und der mittellose Postkartenverkäufer Adolf Hitler das erste und das letzte Mal in ihrem Leben begegnet sein.
Die Stimmungslage schwankt zwischen Fortschrittseuphorie, Utopie und Bilderstürmerei auf der einen Seite und dem Gefühl des Verlusts, des nahenden Abgrunds auf der anderen Seite. Während Max Weber die „Entzauberung der Welt“ konstatiert und Marcel Proust sich auf die vieltausendseitige „Suche nach der verlorenen Zeit“ macht, warnt Oswald Spengler vor dem „Untergang des Abendlandes“. In der Kunst sind mit Malewischts „Schwarzem Quadrat“ und Marcel Duchamps erstem „Ready Made“ unhintergehbare End- und Wendepunkte erreicht.
Florian Illies „1913“ ist ein leicht bekömmliches, schillerndes Appetithäppchen, das den Leser dazu anregt, tiefer in diese Zeit mit ihrer ungeheuren simultanen Dynamik und Spannung auf allen gesellschaftlichen Ebenen und so weitreichenden Folgen für das gesamte 20. Jahrhundert einzutauchen – die Fülle dieses Jahres ist frappierend!
Karsten Herrmann
Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts. Frankfurt: Verlag S. Fischer 2012. 320 Seiten. 19,99 Euro.