E pluribus unum – Aus vielem Eins
Um nach dem grauenhaften diesjährigen US-Wahlkampf dem Land wieder auf andere Weise nahe zu kommen, hat Alf Mayer sich in einen Fotoband vertieft.
Können Bücher Wunden heilen? Nach diesem Präsidentschafts-Wahlkampf hätten das die Vereinigten Statten von Amerika tatsächlich bitter notwendig. Auch wir Zuschauer an den Seitenlinien sind davon betroffen. Wie oft habe ich in den letzten Monaten gehört: „In dieses Land braucht man ja nicht mehr.“ Wer immer am 20. Januar 2017 als 45. Präsident der USA vereidigt werden wird, Hilary Clinton oder Donald Trump, wird kräftig daran arbeiten müssen, dass aus einem tief gespaltenen Land wieder ein „E pluribus unum“ wird – „Aus vielen Eins“, wie der offiziell nie anerkannte Wahlspruch dieses großen Landes lautet. Seit 1782 steht er als Wappenspruch auf dem offiziellen Dienstsiegel und Hoheitszeichen und findet sich auch auf der Ein-Dollar-Note, auf allen US-Münzen und im Siegel des Präsidenten der USA. Ein – wie so oft aus diesem Haus – monumentales Buchprojekt aus dem Verlag Taschen tut nun das seine, der im besten Sinne schönen Größe der United States of America Anschauung zu geben. Es ist ein gewaltiges panoramisches Portät.
„National Geographic: The United States of America“ versammelt über 700 eindrucksvolle Fotos aus den Archiven dieses wegen seiner fundierten Reportagen und oft preisgekrönten Fotografien bekannten Magazins, das seit 1888 erscheint. Die zweibändige Ausgabe tourt die Vereinigten Staaten von Bundesstaat zu Bundesstaat, zeigt Wechsel, Entwicklung, Eigenarten und Vielfalt von Alabama bis Wyoming. Nebenbei wird daraus auch eine Geschichte der fotografischen Evolution: von den Schwarz-Weiß-Aufnahmen und autochromen Fotos der 1920er und 1930er zum Kodachrome der Jahrhundertmitte und dann zu den „härteren“ Reportagebilder der 1970er und 1980er, schließlich zur digitalen Fotografie. Eingeordnet und kommentiert wird das alles kundig von den Autoren David Walker, Jeff Z. Klein und Joe Yogerst. Das gleichzeitig in Deutsch, Englisch und Französisch erscheinende Buch ist bereits die zweite Zusammenarbeit mit dem National Geographic Magazine. Das erste Werk war der gut 1400 Seiten umfassende dreibändige Prachtband „In 125 Jahren rund um die Welt“.
Das Federal Writer’s Project – bis heute eine wertvolle Quelle
Ein ähnliches Projekt wie jetzt das USA-Porträt gab es schon einmal – auf textlicher Ebene. Als Teil der großen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des sogenannten „New Deals“ versammelte das Federal Writer’s Project mehr als sechstausend amerikanische Schriftsteller, Historiker, Geographen, Anthropologen, Fotografen, Archivare und Rechercheure, um ein lebendiges, vielfältiges und dauerhaftes Porträt der Vereinigten Staaten zu erstellen und die Geschichte und Kultur der amerikanischen Nation für die Nachwelt zu dokumentieren. Das Projekt war der Bundesbehörde Works Progress Administration (WPA) unterstellt und lief von 1935 bis 1943. (In der spottgünstigen Biblioteca Universalis von Taschen ist daraus vor kurzem der Band „New Deal Photography. USA 1935 – 1943″ erschienen; CM-Besprechung hier mit etwas Scrollen.)
Die feinsten Autoren waren dafür mit an Bord: Conrad Aitken, Nelson Algren, Saul Bellow, John Cheever, Ralph Ellison, Wallace Stegner, Studs Terkel oder Richard Wright. Es entstanden einige hundert Bücher und Broschüren, darunter Führer für die wichtigsten Städte, für die Autobahnen und die Regionen. Oral History wurde wo nur möglich erfasst, die letzten noch lebenden Sklaven interviewt, Volkslieder aufgenommen und dokumentiert. Die in zahlreichen Feldforschungen geführten Interviews sind bis heute eine wertvolle Quelle zur Folklore und Sozialgeschichte der USA.

John Steinbeck: „Eine Feier all unserer Verschiedenheiten“
Krönung des Projekts war die Erfindung der „American Guide Series“, Reiseführer für jeden der damals 48 amerikanischen Bundesstaaten und die Territorien Alaska und Puerto Rico. Ihr Mantra lautete: „Amerika den Amerikanern beschreiben.“ Dies geschah mit nie zuvor gesehenem Detailreichtum und durchaus mit Charme. Jeder der Führer umfasste mehr als 500 Seiten, enthielt Essays zu Geschichte, Literatur und Kunst des jeweiligen Staates, zu seiner Industrie und Architektur, zu Landwirtschaft und Verkehrswegen, zu Fauna und Flora.
Und immer war auch etwas für den jeweiligen Staat Einzigartiges dabei: die Filmindustrie in Kalifornien, die Milchwirtschaft in Wisconsin, die Wasserwelt in Michigan, die Küche von Louisiana, die Bergarbeitersprache in Nevada, Eskimoworte in Alaska, Abraham Lincoln in Illinois oder Daniel Boone in Kentucky. John Steinbeck nannte diese Führer „die beste je zusammengestellte Bestandsaufnahme der Vereinigten Staaten“ und „eine Feier all unserer Verschiedenheiten“.
Das Projekt freilich war nicht perfekt, seine Verdienste freilich bis heute unbenommen; es geriet in die Vorschatten der „Red Scare“, der Kommunistenfurcht und Kommunistenhetze, seine Ideale und Absichten gerieten in den Ruch kommunistischer Propaganda. Wie in der Filmindustrie wurde auch hier denunziert und verleumdet, gab es Streit um die insgesamt 27 Millionen Dollar, die dafür von der US-Regierung bereitgestellt wurden.
In späteren Jahren gab es dann noch das Mammutprojekt des Journalisten John Gunther („Inside U.S.A“, 1947), 1987 erschien das „Book of America: Inside Fifty States Today“ von Neal R. Pierce und Jerry Hagstrom und ab 2002 kamen die von John Leonard für „The Nation“ herausgegebenen Führer für jeden der 50 USA-Staaten auf den Markt. Der Songschreiber Sufjan Stevens widmete jedem der Bundesstaaten ein eigenes Album. 2008 setzten sich Matt Weiland und Sean Wilsey zusammen und organisierten und editierten „State by State. A Panoramic Portrait of America: 50 Writers, 50 States“. Das 570 Seiten starke Buch erschien bei Ecco im Konzern von HarperCollins, das Cover nahm die Ästhetik des Federal Writer’s Projects auf. Einige der dort versammelten Autoren waren: George Packer (Alabama), William T. Vollmann (California), Rick Moody (Connecticut), Joshua Ferris (Florida), Ha Jin (Georgia), Anthony Doerr (Idaho), Dave Eggers (Illinois), Dagoberto Gilb (Iowa), Anthony Bourdain (New Jersey), Jonathan Franzen (New York), Louise Erdrich (North Dakota) und Edward P. Jones (über Washington, D.C.)
Wahrhaft eine Grand Tour
Nun also der Verlag Taschen und National Geographic zusammen. Großzügig gestaltet, mit einem einführenden Essay von David Walker ausgestattet, mit einem Vorwort zu jedem Staat, einer hübsch gezeichneten Landkarte und aufschlussreichen Bildunterschriften versehen, führt die Reise durch ein wahrhaft großes und faszinierendes Land. Selbst wenn man nie oder nicht so schnell wieder in die USA reisen möchte, dieses Buch erlaubt es einem auf dem Sofa oder am Küchentisch. Und es ist eine wahrhaft große Sache. Eine Grand Tour.
Hier nur einige der Stationen:
1955 fotografiert Justin Locke einige Besucher am Hopi Point Overlook in Arizona, wie sie im Nachmittagslicht über die Licht- & Schattenlandschaft des Grand Canyon schauen. Ich weiß noch, dass dieses Bild es war, das mich 1982 quer durch die Wüste Nevadas bis nach Flagstaff und weiter bis zu eben jenem Aussichtspunkt fahren ließ. Bis heute ist es eines der schönsten Bilder, die ich selbst „betreten und erlebt“ habe. (Und wie immer, merkt man gerade im Südwesten der USA, wie beschränkt und ausschnittsweise selbst die besten fotochemischen Wiedergabetechniken doch gegenüber dieser grandiosen Wirklichkeit sind. Dennoch jederzeit: die Fotos von Justin Locke oder Ansel Adams oder die Scope-Western von John Ford.)
Willard R. Culver zeigt 1946, wie sich in Arkansas am Rande der Blue Ozarks eine neue Reisekultur etabliert. Auf einem modernen Campingplatz schwelgen Touristen in einem neuen Reisegefühl und bestaunen die Landschaft.
Charles E. Grover fotografiert 1953 fast ikonografisch eine Skifahrerin bei einer Pause an einem Tiefschneehang, die verschneiten Rockies von Colorado in ihrem Rücken, in ihrem Gesicht steht das Glück eines großen Outdoor-Abenteuers.
James Randklev fängt 1980 den letzten Sonnenstrahl des Tages, wie er in Kalifornien das Felsmassiv des El Capitan an einem Wintertag im Yosemite Park erleuchtet.
In Delaware findet Stephen St. John 2007 eine als amerikanischen Flagge bemalte, langsam vor sich hin rottende Feldscheune. Auch über dieses Foto lässt sich trefflich sinnieren.
„Be black, be proud“ steht als Graffitti in Sweet Auburn, Georgia, dem Geburtsort von Martin Luther King, Jr.; Jim Richardson hat es 1988 fotografiert.
Vor dramatisch schwarzem Himmel staken 1994 zwei Männer in ihren Seminole-Kanus durch die Everglades von Florida. „Früher waren es Millionen von Vögel, die für Stunden den Himmel verdunkelt haben“, sagt einer von ihnen dem Reporter Alan Mairson, der dazu eine Reportage geschrieben hat.
Dramatisch ist auch der von B. Anthony Stewart eingefangene Blick, den 1950 Besucher vom Dach des Tribune Building in Chicago auf den Chicago River werfen.
In Kansas steht 2007 der Fotograf Jim Richardson inmitten eines Gewitters auf weitem Feld und bannt einen Hagelsturm aufs Bild.
Faszinierend ausgeleuchtet ist die Mammoth Cave-Höhle in Kentucky, mit 390 Meilen Gängen das längste bekannte Höhlensystem der Welt. David S. Boyer fotografiert hier 1964 tiefenscharf.
2007 zeigt uns Tyrone Turner den Trompeter Kenneth Terry und die New Birth Brass Band in Louisiana, wie sie zwei Jahre nach dem Hurrikan Katrina und der Zerstörung von New Orleans ein Konzert geben.
1944 beginnt in der Michigan’s River Rouge Plant eine neue Schicht. B. Anthony Stewart zeigt, wie ein Teil der dortigen 150.000 Ford-Arbeiter gerade zur Arbeit gehen.
Zweimal hinschauen muss man bei der Truthahn-Straßenparade, die Jim Brandenburg im September 1976 auf den Straßen von Worthington, Minnesota, eingefangen hat, in jenem Staat, der die meisten Puten und Truthähne der USA produziert.
Unwahrscheinlich runzelig und zugleich würdig blickt der um das Jahr 1900 von Lewis R. Freeman porträtierte Chippewa-Häuptling Chief John Smith aus Missouri in die Kamera. Heute, so ergänzt der Bildtext, gibt es dort keinen von der US-Regierung anerkannten Indianerstamm.
Patriotismus im Hinterland, in einer Landschaft mit viel Raum und Zeit, findet Jodi Cobb 1978 in der spärlich besiedelten Sandhills-Region von Nebraska, wo in Cherry County an der „School 100“ der Tag damit beginnt, dass ein einsamer Lehrer und seine beiden einzigen Schüler die amerikanische Flagge hissen. (Überhaupt ist der Umgang mit diesem patriotischen Nationalsymbol in dem Buch sehr bemerkenswert.)
1941 fotografiert B. Anthony Stewart im üppigen Grasland der Osage Hills in Oklahoma eine Herde von Hereford-Rindern an einem Wasserloch. Eine pastorale Idylle.
Die Natur mit sich allein zeigt J. Elliott Finlay 1946 in einem tiefenscharfen Schwarz-Weißfoto am Ice Lake in Oregons Wallowa-Gebirge. Im See spiegelt sich ein Dreitausendergipfel, der den Namen Matterhorn trägt.
1930 sieht Charles D’Emery den Steinmetzen bei der Arbeit an Abraham Lincolns Gesicht am Mount Rushmore in South Dakota zu. Die Arbeiten begannen 1927 und wurden 1941 beendet, die Klagen der Schwarzfuß-Indianer nicht beachtet.
Ebenfalls wieder B. Anthony Stewart ist 1953 bei der Azaleenblüte in den Magnolia Gardens von Charleston in South Carolina dabei.
Und dann ist da – als wäre ein Mythos zu einer Ikone gefroren – 1974 von William Albert Allard eingefangen, ein einzelner texanischer Cowboy in vollem Galopp auf einer leeren, weiten Prärie, alle Horizonte offen …
Amerika ist immer wieder viele, viele Blicke wert, keine Frage. Diese zweibändige große Homage macht das mit ihrem panoramischen Blick anregend deutlich. Bei allem kritischen und selbstkritischen Blick ist es eine große, schwergewichtige Liebeserklärung. E pluribus unum – Aus vielem Eins.
Alf Mayer
Jeff Klein, Joe Yogerst, David Walker: National Geographic, The United States of America. Verlag Taschen, Köln 2016. Deutsche, englische und französische Ausgabe. Hardcover, Format 28 x 39 cm, zwei Bände im Schuber, durchgängig illustriert. 964 Seiten, 275 Euro. Verlagsinformationen.