Geschrieben am 21. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Frédéric Beigbeder: 39,90

„Revoluzzer in Gucci“

Frédéric Beigbeder hat ein wütendes und provozierendes Buch über eine Welt geschrieben, in der nur noch das Marketing und der Gewinn zählen. „39,90“ kann in dieser Welt ebenso als ein kritischer Gegenangriff wie auch als ein genialer Schachzug zur Selbstvermarktung gelesen werden – denn „Die Revolte gehört zum Spiel“, heißt es gleich zu Beginn des allemal lesenwerten Romans.

„Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. Der sie von Sachen träumen lässt, die Sie nie haben werden“ – mit starken Sprüchen, grellen Überzeichnungen und Provokationen am laufenden Band jagte Frédéric Beigbeder seinen Enthüllungsroman über die Werbebranche an die Spitzen der Bestsellerlisten in Frankreich und trat als neuer „Skandalautor“ die Nachfolge von Michel Houellebecq an.

In einer wilden Mischung aus Romanfragmenten, kulturkritischen Pamphlets und Werbespots startet der 36jährige in „39,90“ einen Frontalangriff auf unsere Welt, die von Werbung bestimmt und bis ins Herz korrumpiert ist: „Alles ist vorläufig, alles ist käuflich. Der Mensch ist eine Ware wie alle anderen, er hat ein Verfallsdatum.“ Um den „Totalitarismus der Werbung“ zu geißeln scheut Frédéric Beigbeder sich nicht, diese als „Dritten Weltkrieg“ anzusehen und die Werbetexter in die Nachfolge von Goebbels zu stellen. Als studierter Politologe schöpft er in seinem Kreuzzug aus der nicht immer ganz taufrischen, aber doch noch immer bedenkenswerten Kultur- und Kapitalismuskritik von Marx bis Adorno. In der Nachfolge von Aldous Huxley karikiert Frédéric Beigbeder so eine „schöne neue Welt“, in der eine Armee von Managern und Werbetextern eine „Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben.“

Doch diese wohlbekannte Kritik macht nicht den Skandal des mit „39,90“ genau in seinem Wert taxierten Buches aus – der eigentliche Skandal liegt wohl eher darin, dass hier einer aus dem Herzen der Werbeindustrie kommt und rücksichtslos in jene Hände beißt, die ihn lange wohl nährten: Frédéric Beigbeder war viele Jahre bei „Young & Rubicam“, eine der weltweit größten Werbeagenturen, beschäftigt und textete für Kenzo, Wonderbra und Barilla. Die Ähnlichkeit seines Roman-Protagonisten Octave mit ihm selbst ist dabei mehr als offensichtlich – und Frédéric Beigbeder hat in der Tat kurz vor Erscheinen des Buches genau das geschafft, was Octave auf dessen erster Seite markig ankündigt: „Ich schreibe dieses Buch, um gefeuert zu werden.“

Munter pflegt Frédéric Beigbeder in seinen unzähligen Fernsehauftritten und Interviews nun das Image des „Revoluzzers in Gucci“, des „Che Guevara vom Café Flor“. In der Pariser Literatur- und Nachtclub-Szene ist der im Nobel-Vorort Neuilly-sur-Seine geborene Aussteiger mit seinem schulterlangen schwarzen Haar und dem bevorzugten schwarzen Outfit ein vom Hauch des Subversiven umwehter Star. „Um ein Flugzeug entführen zu können, muss man erst einmal mitfliegen“ lautet einer seiner Wahlsprüche, mit denen er vorgibt, das System – im Gegensatz zum umgekehrten Vorgehen der 68er-Bewegung – von innen sprengen zu wollen.
Doch der Weg durch die Werbeindustrie führt, wie „39,90“ ohne Angst vor dem Klischee zeigt, durch die Hölle und lässt in der Regel ausgebrannte Zyniker oder Selbstmörder zurück. Kompromisslos wie Michel Houllebecq führt Beigbeder die Menschenspezies nach dem Ende des Humanismus vor Augen: Sein alter ego Octave arbeitet zusammen mit Charlie, der sich zur Entspannung die größten Perversitäten des Internets herunterlädt, einer riesigen Werbekampagne für den neuen Diätjoghurt von „Madone“ (dessen Namensähnlichkeit mit „Danone“ alles andere als zufällig ist). Aus der Perspektive des sich selbst Verachtenden werden Weltsicht, Styling und Slang der Werbemacher hier in grotesker Überspitzung vor- und mit eingeblendeten Wahnsinns-Scripts für Werbespots komplett ad absurdum geführt.

Octave ist ein prinzipienloses „Chamäleon auf Kokain“ und greift, nachdem ihn seine schwangere Freundin verlassen hat, aus „Angst vor der Liebe“ nur noch auf die professionellen Dienstleistungen des Callgirls Tamara zurück – und macht sie nebenbei zum Star des in Miami gedrehten „Madone“-Werbespots. In bewährter Bret Easton Ellis-Manier lässt Frédéric Beigbeder das Dreigespann Octave, Charlie und Tamara schließlich noch furchtbare Rache an einer zufällig ausgewählten und stellvertretend für die Aktionäre dieser Welt stehenden reichen amerikanischen Rentnerin nehmen – und katapultiert seinen Roman damit in den kompletten Wahnwitz.

Frédéric Beigbeder hat ein wütendes und provozierendes Buch über eine Welt geschrieben, in der nur noch das Marketing und der Gewinn zählen. „39,90“ kann in dieser Welt ebenso als ein kritischer Gegenangriff wie auch als ein genialer Schachzug zur Selbstvermarktung gelesen werden – denn „Die Revolte gehört zum Spiel“, heißt es gleich zu Beginn des allemal lesenwerten Romans.

Von Karsten Herrmann

Frédéric Beigbeder: 39,90. Rowohlt, 272 S., 39.90 DM. ISBN: 3-498-00617-7