Amüsante Kammerdiener-Suada
– Gabriel Josipovici hat mit „Unendlichkeit“ einen veritablen Künstler-Roman geschrieben. Von Wolfram Schütte
Der 1940 in Nizza geborene Gabriel Josipovici ist in England aufgewachsen & so dem Holocaust entkommen. Er lebt heute als freier Schriftsteller in Lewes (Sussex). Zuvor hat er an der dortigen Universität gelehrt & ist vor allem als Literaturkritiker & -theoretiker in Großbritannien bekannt geworden. Seine avantgardistische erzählerische Prosa werde „auf dem Kontinent“ mehr beachtet & geschätzt als auf den Britischen Inseln, sagt er.
Soweit ich es als deutscher Leser überblicke, ist der Romancier Josipovici stark von Thomas Bernhard beeinflusst worden. Das war in „Moo Pak“ (1994) so & trifft nun auch auf seinen eben erschienenen jüngsten Roman zu. „Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks“ lautet sein paradoxer Titel.
Übersetzt hat den schmalen Roman der Pianist & Konzertchef Markus Hinterhäuser, der ab 2014 die Wiener Festwochen leiten soll. Es wird vielleicht nicht nur daran liegen, dass Hinterhäuser von 2007 bis 2011 bei den Salzburger Festspielen gearbeitet hat, also am Ort des österreichischen Verlags Jung & Jung, wo „Unendlichkeit“ nun erschienen ist; ausschlaggebender dürfte für ihn gewesen sein, dass dem Roman im Großen & Ganzen die Biografie des italienischen Avantgarde-Komponisten Giacinto Scelsi zugrunde liegt, der 1988 gestorben ist. Dem Leser der deutschen Ausgabe wird dieser Hintergrund ebenso wenig mitgeteilt wie die Tatsache, dass der englische Autor Zugang zum Archiv der in Rom ansässigen Scelsi-Stiftung hatte. Man erfährt dergleichen aus dem Internet.
Fakten & Fiktionslust
Müsste & sollte man wissen, dass der sizilianische Adlige & exzentrische Komponist, der in Josipovicis Roman Pavone (ital. Pfau) heißt, Scelsis Person, Charakter & Biografie nachgestaltet ist? Ja, es wäre nicht ohne Gewinn, weil unser Verhältnis als Leser zu der Hauptfigur des Romans ein anderes wäre, wenn wir wüssten, dass Leben & Ansichten von „Pavone“ nicht ausschließlich ein Fantasieprodukt des Autors sind. Wenngleich – wie auch bei den ästhetisch vergleichbaren, amüsanten Romanen des Franzosen Jean Echenoz ( u. a. „Ravel“, „Blitze“) – erst durch eine Beschäftigung mit der Realbiografie ihrer jeweiligen Helden die fiktionalen Abweichungen in den Romanen erkennbar würden.
Aber es ist schon ein Unterschied ums Ganze zu wissen, dass Scelsi zum Beispiel Musikstücke geschrieben hat, die nur aus einem Ton bestehen oder nur für ein Instrument gedacht sind, dass er auf Französisch Gedichte geschrieben hat & seine adlige Herkunft ihm ein materiell sorgenloses Leben ermöglichte – anstatt diese Fakten der Fiktionslust Josipovicis zuzuschreiben. Oder: dass die Frau den realen Komponisten, nach zwei erfolglosen früheren Fluchten, am Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig verlassen & im Roman Pavone keine Anstrengung unternommen hat, sie erneut ausfindig zu machen – es mithin nicht der Romanschreiber ist, der seinem Helden diesen Verlust zudiktiert hat.
Aber andererseits: Ist die hohe Wertschätzung Pavones für die (Glocken-)Musik in Nepal eine Imagination Josipovicis oder finden sich dafür, außer seinen Reisen nach Asien, Anhaltspunkte in Scelsis Hinterlassenschaften? Das erfahre ich aus dem mir zugänglichen biografischen (Wikipedia-)Material nicht. Was einen wiederum zu der Ansicht bringt, es sei irrelevant zu wissen, was in Josipovicis Roman „Unendlichkeit“ biografischer Fakt & was Romanfiktion ist – wenngleich sowohl der Titel als auch das mit ihm korrespondierende mathematische Zeichen einer liegenden Acht auf dem Schutzumschlag aus dem Romangeschehen nicht verständlich sind (wie auch dessen Untertitel), hätte der Autor nicht in einem Gespräch erwähnt, dass Scelsi gelegentlich mit diesem Zeichen seine Prosa unterzeichnet hat.
Intellektuelle Durchlüftung
Man kommt nicht umhin, wie bei „Moo Pak“ so nun auch bei „Unendlichkeit“ an Thomas Bernhards Prosa, deren spezifisch outrierte humoristische Erzählweise und dessen exzentrisch-meinungsfreudige Helden zu denken. Wie oft bei Bernhard produziert auch bei Josipovici der Stil die humoristische Grundströmung des Romans. Es ist der Stil einer zitierten wörtlichen Rede, bei der die kategorischen (oft auch abfälligen) Behauptungen des Künstlers Tancredi Pavone über sich, seine Kollegen, den Weltlauf, das Leben & die Kunst in einer mäandrierenden Suada von dem einfältigen Butler Massimo einem namenlos Fragenden mitgeteilt werden. Die Prosa simuliert einen von Nachfragen & Aufforderungen des Autor-Erzählers provozierten Monolog aus Pavone-Sätzen. Massimo – der immer wieder seine Erinnerungen abbricht & den ihn Befragenden subaltern mit „mein Herr“ anspricht & von diesem immer wieder aufgefordert wird, in seinem Bericht über den zum Zeitpunkt seiner Befragungen längst verstorbenen Musiker „fortzufahren“ – antwortet mit Erinnerungen, die so wortwörtlich erscheinen, als seien sie gerade erst gefallen.
Der ästhetische Reiz des Romans ist nicht nur in der Eigensinnigkeit Pavones & der dadurch vom Leser permanent verlangten Selbstjustierung zu erblicken, was eine intellektuelle Durchlüftung von unterschiedlichsten (Vor-)Urteilen mit Zustimmung & Ablehnung bedingt & einen zum Teilhaber an einem von Pavone/Josipovici provozierten geistes- & kulturgeschichtlichen Essay macht. Vor allem aber besitzt seine rhythmisch skandierte Prosa (wie die Thomas Bernhards) eine erzählerische Verve, die einen sowohl amüsiert als auch provoziert. Hinzukommt im mäandrierenden Verlauf der im Großen & Ganzen chronologisch beschworenen Lebensgeschichte Tancredi Pavones & seines Butlers Massimo eine ins Anrührende wachsende Herr/Diener-Beziehung.
Kurz & gut: Gabriel Josipovici hat mit „Unendlichkeit“ einen veritablen Künstler-Roman geschrieben: „… es ist die Musik, auf die es ankommt, Massimo, nicht auf dich oder mich kommt es an, sondern auf die Musik, andererseits muss man sich fragen, wo denn die Musik sein würde, wenn Mr. Pavone nicht da gewesen wäre, um sie zu komponieren, man muss sich das fragen, ja, mein Herr, man muss sich das fragen“, resümiert der kolportierende Butler seine kurzweilige Erzählung, bevor er in endgültiges, abschließendes Schweigen versinkt, weil er „mehr nicht zu sagen hat“. Davor aber hat ihn der immer wieder nachfragende Josipovici aufs Unterhaltsamste zum Sprechen gebracht.
Wolfram Schütte
Gabriel Josipovici: Unendlichkeit. Die Geschichte eines Augenblicks. Aus dem Englischen von Markus Hinterhäuser. Salzburg: Jung und Jung 2012. 176 Seiten. 20 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Homepage des Autors. Foto Josipovici: Quelle Homepage.