Geschrieben am 17. September 2014 von für Bücher, Litmag

Georg Fink: Mich hungert

georg fink_mich hungertWichtige Wiederentdeckung

– Fünfundachtzig Jahre ist es her, seit Georg Finks Roman „Mich hungert“ zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Eine außerordentliche Geschichte, die die Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin eindringlich skizziert. Bernd Jooß freut sich über eine wichtige Neuentdeckung.

Mich hungert …
Damit beginnt mein bewusstes Leben. Meine erste Erinnerung ist dieses: mich hungert …
Bis dahin lag ich im selig Unbewussten, noch immer wie im warmen Dunkel des Mutterleibs, im heiligen Schutz der einzigen Liebe. Und dann riss mich das lebendige Leben hinaus, ich fühlte: mich hungert … und erwachte – –

Mit diesen wuchtigen Worten beginnt der Roman und lässt einen fortan nicht mehr aus seinen Klauen. Erzählt wird die Geschichte von Theodor König, einem Halbjuden, der mit seiner Familie in bitterer Armut aufwächst.

Sowohl die Mutter Perdita als auch der Vater Georg sind von der Ehe enttäuscht, da sie für keinen von beiden das bereitgehalten hat, was sie sich erhofft hatten. Doch während die Mutter sich für die Familie aufopfert und sechs Tage die Woche für andere Leute die Wäsche schruppt, verprasst der Vater das wenige Geld in Kneipen oder lässt sich von anderen Frauen aushalten. Seinen ältesten Sohn verachtet er, weil er in ihm den Ausdruck seiner verlorenen Träume sieht, weshalb er ihn nicht nur regelmäßig verdrischt, sondern auch zum Betteln auf der Straße zwingt. Von seinem anderen Sohn, Mark, hält der Vater ebenfalls nicht viel, wenngleich dieser ihm recht ähnelt. Allein seine Tochter Hanny verwöhnt er, wo er nur kann, einzig deshalb, weil er hofft, dass ihre Schönheit einmal die Männer betören wird und er daraus Kapital schlagen möchte.

Dennoch, Theodor empfindet die Armut niemals als Last. Stattdessen saugt er das pulsierende Leben um sich herum begierig auf. Schnell lernt er die rauen Gepflogenheiten auf der Straße kennen, genauso wie die Saufkumpanen seines Vaters mit ihren dreckigen Witzen und ihrer lauten Art. In einer solchen Welt verliert man seine Unschuld recht früh, wie Theodor an einer Stelle des Romans bemerkt, doch er sagt das ohne jegliche Verbitterung in der Stimme, nie fühlt er sich von diesem Leben abgestoßen. Im Gegenteil, er macht sich all das zu eigen und versucht, seinen eigenen Weg zu finden.

Schließlich erhält Theodor die Chance, dank der Unterstützung der Fabrikantenfamilie Falk das Gymnasium zu besuchen. Doch der Junge lehnt ab, er möchte sich nicht über seine Familie stellen und vor allem kann er seine Mutter nicht verlassen, die er heiß und innig liebt.

Trotz allem besucht Theodor fortan hin und wieder die Familie Falk, freundet sich mit deren Sohn Stefan an, lernt die exzentrische bessere Gesellschaft kennen und entdeckt seine Liebe zur klassischen Musik. Für einige Zeit meint es das Leben gut mit ihm, bis sich die Ereignisse überschlagen, die Mutter stirbt und der Erste Weltkrieg ausbricht. Das Leben schlägt mit seiner unerbittlichen Härte zu, während die Familie nach und nach endgültig auseinanderzubrechen droht. Aber niemals gibt Theodor auf, jedes Mal, wenn er fällt, steht er wieder auf und macht weiter. Er kennt seinen Platz in der Welt, und wenngleich dieser recht begrenzt ist, kann er sich damit gut arrangieren. Er weiß, er muss standhaft bleiben, nicht nur für sich, sondern ebenfalls für alle anderen, die sind wie er. Und so heißt es am Ende:

Man braucht nicht von denen zu reden, die sich selber helfen. Nur von denen, denen nie geholfen werden kann. Nicht einmal von Gott. Kein Gott wagt sich in die Finsternisse seiner Schöpfung, wo die Ratte sich an die Brust des Menschen flüchtet, um sich da zu wärmen; wo die Mutter den Müllkasten in fremdem Hof durchwühlt, um für ihr Kind verschimmelt Brot zu finden. Von ihnen reden – Aber zu welchem Ende, da man ihnen nicht helfen kann? … Doch wenn nur Liebe für sie da wäre in der Welt: sie atmeten vielleicht freier …

Ein Buch ohne Verfallsdatum

Georg Fink schrieb „Mich hungert“ 1929, dem Jahr des Schwarzen Donnertags mit seinem Börsencrash und der damit einhergehenden ersten Weltwirtschaftskrise und der Großen Depression. Eine Zeit, in der das ausbeuterische System der noch jungen Industrialisierung herrschte, in denen die Arbeiter sechs Tage die Woche für Hungerlöhne Schwerstarbeit verrichten mussten, während die Reichen es sich gutgehen ließen und sich stetig mehr bereicherten.

Viele sehnten damals einen Umsturz herbei und wähnten im aufkommenden Kommunismus ihr Heil. All das wird in diesem Roman hautnah spürbar und ist auch heute, in Zeiten von Hartz IV, hoher Arbeitslosigkeit und in der die soziale Schere immer weiter auseinanderklafft, hochaktuell. Zugleich ist „Mich hungert“ ein Berlin-Roman, in dem die Geografie der Stadt genau geschildert wird und in der schon damals im Osten die Armen und im Westen die Reichen wohnten. Bei einer solchen Milieustudie darf die Berliner Schnauze, die zum Teil recht derb daherkommt, natürlich nicht fehlen, genauso wenig wie die etwas ruppige Mentalität der Berliner. Dennoch, das Thema des Romans ist derart universell, dass er genauso gut in London, Paris, New York oder Hongkong hätte spielen können.

Obwohl man dem Schreibstil sein Alter etwas anmerkt, so dass man ein paar Seiten braucht, um sich hineinzufinden, besitzt Fink ein außerordentliches Gespür für Sprache, man treibt auf deren Schönheit wie auf Wellen dahin und wünscht sich, dass dieser Mann noch viel mehr geschrieben hätte … was er tatsächlich getan hat, wenn auch unter einem anderen Namen.

Georg Fink ist lediglich ein Pseudonym, wie der Leser im Vorwort erfährt. Sein richtiger Name lautet Kurt Münzer, ein zu damaliger Zeit erfolgreicher Roman- und Theaterautor, dessen Werke sich deutlich von „Mich hungert“ unterscheiden. Münzer dachte sich eine haarsträubende Geschichte aus, wie er angeblich zu dem Manuskript kam und hielt an dieser bis kurz vor seinem Tod fest. Ein weiteres Buch von Georg Fink stand kurz vor der Veröffentlichung, als die Nazis an die Macht kamen und „Mich hungert“ Opfer der Bücherverbrennung wurde. Münzer floh ins Ausland.

Lange Jahre war der Roman vergessen, bis der engagierte Verleger des Metrolit Verlags, Peter Graf, darauf stieß und ihn wieder der breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Das war jedoch nicht das erste Mal, dass Herr Graf eine solche Leistung vollbrachte, bereits letztes Jahr veröffentlichte er „Blutsbrüder“ von Ernst Haffner, ein ebenfalls lang verschollener Roman mit ähnlicher Thematik.

Allgemein ist der junge Metrolit Verlag eine hervorragende Adresse, wenn es darum geht, literarische Entdeckungen zu machen, die abseits der ausgetrampelten Pfade liegen. „Mich hungert“ ist dafür das beste Beispiel.

Bernd Jooß

Georg Fink: Mich hungert. Neuauflage. Metrolit 2014. 300 Seiten. 19,99 Euro.

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