Geschrieben am 4. Juli 2012 von für Bücher, Litmag

Gert Voss: Ich bin kein Papagei

Spricht der Papagei im Schlaf?

– Der grandiose Schauspieler Gert Voss beschreibt in seiner Autobiographie „Ich bin kein Papagei“ die markantesten Stationen seiner Laufbahn – ein aufregendes und äußerst amüsantes Leseerlebnis. Mit seinem klaren analytischen Blick liefert er darüber hinaus auch eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Theater-Misere. Von Peter Münder.

Als Rollstuhl fahrender Großindustrieller Herrenstein in Thomas Bernhards Stück „Elisabeth II.“ feiert Gert Voss auf der Bühne des Berliner Ensemble gerade wahre Triumphe. Der Ausnahme-Schauspieler begeistert mit seiner ins Exzentrische driftenden Intensität und einer einmaligen Ausstrahlung außerdem noch in den Bernhard-Stücken „Einfach kompliziert“ und „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ nicht nur die Zuschauer, sondern auch schon seit Jahren die besten Regisseure der deutschsprachigen Theaterlandschaft. Peter Kümmel befand daher in seiner ZEIT-Kritik: „Eine Dynamik, die sich schon länger abzeichnete, wird hier zum Prinzip: der Rückzug in die Sonderklasse … Neben ihm, ohne dass er es wollte, verdorrte alles Leben zum Zuträgergeschehen“.

Keine Frage: Voss spielt als mehrfacher „Schauspieler des Jahres“ ganz oben in der Champions-League und reiht sich ein in die kleine Schar charismatischer Stars, zu der auch Ulrich Wildgruber und Bernhard Minetti gehörten. Seine größten Bühnen-Triumphe erlebte er mit Claus Peymann (immer noch!), Peter Zadek, Luc Bondy und George Tabori. In Thomas Bernhards Rollen, im gelobten Bernhard-Land, fühlt sich Gert Voss immer noch besonders wohl und glücklich. Nicht nur, weil man hier die Wonnen der Agonie als Schauspieler – wie die Zuschauer ja auch! – bis zum Extrem auskosten kann. Auch das Verdikt des kapriziösen österreichischen Dramatikers, der befand: „Das Schönste am Theater ist ein denkender Schauspieler“, scheint direkt auf Gert Voss zugeschnitten zu sein. Nicht umsonst hatte Bernhard (1931–89) ja sein Stück „Ritter, Dene, Voss“ nach den wunderbaren Ausnahme-Schauspielern Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss benannt. Wer Voss in diesem Drama einmal erlebt hat, wird seine Attacken gegen die beiden vereinsamten Schwestern, die ihren kapriziösen, halbirren Bruder Ludwig (der dem Philosophen Wittgenstein ähnelt) umgarnen, ebenso wenig vergessen wie sein Brandteigkrapfen-Schlachtfest: Aus Protest gegen die ihm aufgedrängte Lieblingsspeise verschlingt er Unmengen dieser Krapfen („mit allen diesen Brandteigkrapfen häßlich und stumpfsinnig geworden“), die er umgehend auskotzt – ein Balanceakt am Rande des emotionalen Zusammenbruchs, zwischen Genie und Wahnsinn und haargenau den von Bernhard anvisierten Grenzbereich auslotend.

Der 1941 in Shanghai geborene Gert Voss (sein Vater war dort als Kaufmann tätig) hatte in der chinesischen Metropole schon als Kind seine Leidenschaft für Kino, Theater und für die chinesische Oper entdeckt. Er trällerte, piepste und quakte von morgens bis abends Tonfolgen, die er für chinesischen Singsang hielt: „Zum Leidwesen meiner Eltern, die glaubten, ich hätte schon wieder eine Tropeninfektion.“ Und seinem kleinen Bruder spielte er damals schon Szenen vor, die er erlebt hatte. Nach dem Krieg wurde er mit seiner Familie mit einem US-Truppentransporter repatriiert: Über Hongkong, Taiwan, den Suezkanal ging es nach Bremerhaven und Hamburg – die exotischen Zwischenstopps genoss der Junge sehr, während die deutsche Alltagstristesse samt langweiliger Schulzeit für ihn dann ziemlich nervtötend war. Es gab für ihn einfach zu wenig Freiräume, die autoritären Lehrer hatten kein Verständnis für den neugierigen, lebendigen, fantasiebegabten Schüler, der unbedingt Schauspieler werden wollte. Das Motto des Buches galt für ihn eigentlich lebenslang: „Ich bin doch kein Papagei“ hatte er Claus Peymann einmal bei Theaterproben entrüstet vorgehalten, als dieser ihm etwas vorspielte, was er einfach imitieren sollte. Gert Voss wollte eben nie nachplappern, was ihm von vermeintlichen Autoritäten vorgegeben war.

In München nimmt er bei Ellen Mahlke Schauspielunterricht, der geniale, kauzige Hermann Lause, mit dem er sich sofort anfreundete, ist sein Mitschüler. Sein erstes Engagement bekam er in Konstanz, wo er gleich vom „Mann mit der goldenen Nase“, dem Heidelberger Intendanten Hans Peter Doll, entdeckt wird. Der wechselt nach Braunschweig und engagiert den jungen Gert Voss für Shaws „Candida“. Hier gibt es Probleme mit dem unbedarften „Otto der Spielvogt“, der sich alle kapriziösen Eskapaden einer Pseudo-Diva gefallen lässt. Irritierend auch der theatralische Seitensprung eines jungen Regisseurs, der ausgerechnet während einer Probe zu Becketts düsterem „Endspiel“ (mit Voss als Clov und Wolf Flüs als Hamm) in der letzten Parkettreihe mit einer Regie-Assistentin vögeln musste. Sollte das vielleicht ein hedonistisches Protestsignal gegen Becketts defätistisches Mülltonnen-Szneario sein? Das Endspiel-Duo Voss-Flüs protestiert entrüstet beim Intendanten („Wir spielen hier um unser Leben und der …“), doch Hans Peter Doll, mit unendlichem Verständnis für das ewig Menschliche gesegnet, wimmelt die beiden Mimen ab: „Gert, Bubsche, das ist natürlich keine schöne Sache, aber vergiss nicht, jeder ist nur ein Mensch, wir sollten nicht kleinlich sein. Kurz, der Lappen muß hoch. Weitermachen … Wir spielten selbstverständlich die Premiere.“

Dem Leben einen Sinn geben

Zu den markantesten Stationen und Erfolgen gehören die Arbeiten mit dem Bernhard-Spezialisten Claus Peymann, der schließlich auch als „Burgherr“ am Wiener Burgtheater mit Voss (von 1986–93 und ab 1996) etliche Bernhard-Klassiker inszenierte und mit Voss als Richard III. vorübergehend sogar die ewigen Wiener Nörgler und Skeptiker beschwichtigen konnte, die den Deutschen jede Sensibilität gegenüber dem österreichischen Sprachduktus absprachen: „Die können ja weder Cafe‘ richtig aussprechen noch das Wort Mathematik richtig betonen“, hatten die ersten Kritiken noch empört moniert. Und in Kleinanzeigen boten theateraffine Wiener prompt „Sprachunterricht für zugereiste deutsche Schauspieler“ an. Der subtile Nervenkrieg eskalierte jedoch zum plump-aggressiven Kulturkampf, als man die Autoreifen des deutschen Schauspielers aufschlitzte, ihm in einem hübsch drapierten Karton einen Haufen Scheiße ins Haus schickte und er sogar Morddrohungen per Post bekam. „Das erlebe ich auch jeden Tag“, meinte Peymann dazu. Bei einem Besuch im Peymann-Büro traf Voss zu dieser Zeit auch Thomas Bernhard, der über diesen irritierenden Stand der Dinge überhaupt nicht überrascht war und dem deutschen Duo empfahl, statt der weißen Fahne mit dem Schriftzug „Burgtheaterensemble“ eine schwarze Fahne auf dem Dach zu hissen – auf der sollte „Mord und Totschlag“ stehen: „Das ist der richtige Titel für das Burgtheaterensemble“. Außerdem musste sich Voss sozusagen als „Fahnenflüchtiger“ für seinen Besuch des Opernballs rechtfertigen: „Ein Schauspieler wie Gert Voss geht nicht auf den Opernball“, befand Bernhard. In diesen wirren, aufregenden, konfliktbeladenen Tagen gab es aber auch Trost von „aufgeklärten“ Wienern, die dem Star von der Burg klipp und klar und enthusiastisch schrieben: „Dem Leben einen Sinn geben, Voss erleben“. Welcher andere Schauspieler kann diesen Wirbelsturm der Begeisterung heute noch entfachen?

Groteske Konstellationen aus dem Bernhard-Kosmos färbten auch auf den Bühnen-Alltag ab: In „Immanuel Kant“ soll Voss einen Papagei nachahmen, der laut Bühnenanweisung im Käfig hinter Bühne mit wunderbarer Theatralik krächzt und vor sich hin brabbelt, was ihm nach intensivem Üben auch hervorragend gelingt. Dann entdeckt er während der Proben, dass das Federvieh über eine längere Strecke laut Textvorlage überhaupt keinen Laut mehr von sich geben soll. Also nimmt er sich nach Absprache mit dem Regie-Assistenten einen Tag frei, was Peymann in Rage versetzt: „Bestimmt jetzt schon Herr Voss, wann er hier zu erscheinen hat?!“ Prompt wird Voss sofort zu den Proben bestellt. Nach langer Diskussion klärt der um seine Autorität besorgte Peymann den Konflikt mit dem Hinweis, Voss müsse auf der Bühne sein, auch wenn die Papageien-Präsenz nicht ausdrücklich in den Regie-Anweisungen vorgesehen sei – schließlich könne ein Papagei ja auch mal im Schlaf brabbeln und krächzen. Voss krächzt dann tatsächlich mit origineller, bravouröser Komik, die Premiere wird (nicht nur für Ornithologen) ein voller Erfolg und Peymann informiert seinen Stimmen-Imitator: „Du bist übrigens für Dein Papageigekrächze als Schauspieler des Jahres vorgeschlagen!“ Tatsächlich war Voss ja sechs Mal „Schauspieler des Jahres“ geworden – aber wohl eher nicht wegen seiner zwischen glissando und crescendo souverän modulierten Krächz-Artistik.

Die Powerplay-Aspekte, all die grotesken Spielchen der machtbesessenen Regisseure mit den Schauspielern, beschreibt der sensible Voss sehr genau und kritisch. Da wirft Voss etwa bei den Proben mit Zadek (zu Strindbergs „Totentanz“ ) in einem dieser typischen mörderischen Strindberg-Dispute voller Wut einen schweren Aschenbecher ins Parkett und verfehlt den zufällig vorn sitzenden Star-Regisseur, den er gar nicht wahrgenommen hatte, nur knapp- Zadek saß ja sonst immer weiter hinten am Regiepult. Der mimosenhaft reagierende Regisseur ist empört und wittert ein Mordkomplott, er absentiert sich für eine Weile von den Proben und erzählt überall herum, „der Voss wollte mich umbringen“. Die Zadek-Methode, die ja eigentlich auch die übliche Zuckerbrot-und-Peitsche- Masche von Sekten-Gurus ist, seziert Voss mit vernichtender Präzision: Wer in den Dunstkreis des Meisters wollte – Voss gehörte ja nach den üblichen Anlaufproblemen zum „inneren Kreis“ – musste jederzeit mit Liebesentzug und Nichtbeachtung rechnen. Was Gert Voss ganz zu Recht als autoritäre, einschüchternde Klippschulmethode darstellt.

Seine Rückblicke auf die schönsten Inszenierungen verklärt Voss nie mit der Gloriole für die eigene Großartigkeit – er setzt sich hier kein eigenes Denkmal. Der Mix aus Anekdoten, nachdenklichen Rückblenden, der Beschreibungen von Arbeitsmethoden berühmter Regisseure sowie seiner Versuche, sich den Zugang zu schwierigen Stücken – etwa zum „Kaufmann von Venedig“ oder „MacBeth“ – mit eigenem kritisch-analytischem Scharfsinn selbst zu erarbeiten, dieser Mix ist einfach unwiderstehlich und zieht den Leser in einen Strudel, den er intensiv auskosten möchte.

Wichtig ist ihm auch das Theater als Forum für die Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Aspekten: Als Peymann mit der Stuttgarter Schauspieltruppe zum RAF-Prozess nach Stammheim fuhr und mit Stücken wie „Die Gerechten“ von Albert Camus und Hochhuths „Juristen“ über den Alt-Nazi Filbinger die Diskussion über gesellschaftliche Veränderungsprozesse vorantrieb, war dies für ihn einer der aufregendsten Momente. Denn die Banalisierungstendenzen, das „plaudernde Zerkleinern von Texten“ (Benjamin Henrichs) oder die sich bei Trash-TV-Glotzern anbiedernden bunten Spaß-Abende – die profilneurotischen Exzesse und Stilisierungskrämpfe einiger junger Stückeverhunzer und Pseudo-Regisseure – dieser Terror des Trivialen blieb ihm damals zum Glück erspart. Die großen Aufregungen und Skandale, die er miterlebte und hier beschreibt, konnten ja nur stattfinden, weil während der Zeit der Studentenrevolten und in den 70er Jahren das Theater einen viel höheren Stellenwert hatte als in diesen dumpfen Dampfplauderzeiten.

Als Claus Peymann im Januar 1995 im Berliner Ensemble dem großen Mimen Minetti zum 90. Geburtstag gratulierte und in seiner Rede vom „Prinzip Minetti“ sprach, das jedem Schauspieler Richtschnur und „Theaterweltformel“ sein sollte, erläuterte er einige der wesentlichen Aspekte: „Das Prinzip Minetti beharrt unbedingt auf der Wahrheitssuche und widerstrebt jeglichem ideologischem Schwampf und Gesäusel, widersteht Stahlgewittern und Bocksprüngen“, erklärte Peymann. Es sei jedoch bedroht „durch Theaterkorruption und kulturpolitischen Dilettantismus. Das Prinzip Minetti ist nämlich Anti-Provinzialismus und immer das Gegenteil von Theaterzynismus“. Kaum jemand könnte dieses Prinzip wohl idealer verkörpern als Gert Voss. Die nächsten Peymann-Sätze könnten auch die Quintessenz eines „Prinzip Voss“ umschreiben: „Das Prinzip Minetti ist neugieriges Vorausblicken und eben keine eitle, selbstgefällige, kleinkarierte Rechthaberei. Das Prinzip Minetti ist immer das Gegenteil von Kompromiss, das Gegenteil von Sich-Begnügen, von bequemer Gleichgültigkeit und das Gegenteil von Selbstlob und Beweihräucherung. Das Prinzip Minetti ist ein schönes Gebot. Und ein großes Gelächter aus Erkenntnis.“

Was für ein wunderbares (herrlich illustriertes!) Buch, was für ein sympathischer, genialer Schauspieler!

Peter Münder

Gert Voss: Ich bin kein Papagei. Eine Theaterreise. Styria Premium, Wien 2011, 306 Seiten. Verlagsseite und Leseprobe. Homepage von Gerd Voss. Porträtfoto: Quelle: Homepage.

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