Tale of two cities
– Zwei Megacities spielen die Hauptrolle in Ulla Lenzes viertem Roman, und schon der Titel deutet an, dass die Autorin Parallelen zieht zwischen Istanbul und Mumbai, und dass sie sie sich dem Begriff der Stadt als solcher nähert. Von Frank Schorneck
Schon in ihrem 2003 erschienenen Debüt „Schwester und Bruder“ blickte die Berliner Autorin weit über den europäischen Tellerrand hinaus, verarbeitete sie ihre Erfahrungen aus einem eigenen Lebensabschnitt in Indien. Als Stadtschreiberin von Damaskus und mit Aufenthaltsstipendien in Istanbul und Mumbai wurde sie auch von politischen Gremien wahrgenommen und begleitete 2014 eine Delegation des Außenministeriums nach Neu Delhi. Und so wundert es nicht, dass „Die endlose Stadt“ nicht bloß intensive Eindrücke der Aufenthalte in Istanbul und Mumbai verarbeitet, sondern aus unterschiedlichen Perspektiven die Rolle des Künstlers, des Stipendiaten, des privilegierten und dennoch abhängigen Beobachters der Szenerien hinterfragt.
Neben den beiden Metropolen stehen zwei junge Frauen im Mittelpunkt: Da ist zum einen Holle, eine Künstlerin, die sich durch Fotografie und Malerei den Orten nähert – und auf der anderen Seite Theresa, die als Journalistin mit Mitteln der Sprache die sie umgebenden Szenerien zu bannen versucht. Die beiden Frauen sind sich nie begegnet und werden dies auch im Laufe des Romans nicht tun – dennoch kreuzen sich ihre Schicksale. Ulla Lenze schneidet die Handlungsstränge um Holle und Theresa im Wechsel gegeneinander und als Leser benötigt man eine Weile, um herauszufinden, dass keinesfalls eine zeitliche Parallelität vorliegt, wie es diese Erzählweise zunächst suggeriert.
Dilemma zwischen Kunst und Kommerz
Chronologisch betrachtet beginnt die Geschichte in Istanbul, wohin Holle ein Künstleraustausch verschlagen hat und wo sie die Bekanntschaft zweier Männer macht, die auf sehr unterschiedlichen Ebenen ihr künftiges Leben beeinflussen werden. Da ist zum einen Celal, der ungestüme und charmante Besitzer des Döner-Paradise, der sie mit seinem rudimentären Englisch um den Finger wickelt, und zum anderen – der Kontrast könnte kaum größer sein – Immobilienhai Christoph Wanka, an dessen finanziellem Tropf die Künstlerin bald hängt. Celals dramatischen Liebesschwüren fühlt sich Holle, die lediglich ein kurzes Abenteuer in ihm sah, nicht gewachsen und auch bei Wanka ist sie sich nicht sicher, ob er mehr an ihrer Kunst oder an ihr interessiert ist. Durch den Ankauf mehrerer Werke rettet er sie allerdings aus einem finanziellen Tief und ermöglicht ihr zudem, in einer Mitarbeiterwohnung seines Konzerns in Mumbai ein neues Projekt anzugehen. Eben diese Wohnung bezieht Theresa zur Untermiete, als Holle fluchtartig Mumbai verlässt und zu Celal nach Istanbul zurückkehrt. Theresa stößt – angefangen von der nicht weggeräumten Unterwäsche auf dem Wäscheständer bis hin zur Post – auf Spuren Holles, nimmt schließlich sogar Holles Termine wahr.
Sinnliche Stadtbeschreibungen
Holle und Therese sind beide um einen Blick hinter die touristische Oberfläche der beiden Städte bemüht, sind sich des inneren Konfliktes ihrer Rollen jedoch sehr bewusst. Holle ist in dem klassischen Dilemma zwischen Kunst und Kommerz gefangen, und als sie herausfindet, dass Wankas Firma Celals Grundstück gegen dessen Widerstand zu kaufen beabsichtigt, verleiht dies seinem Interesse an ihren Werken einen faden Beigeschmack. Theresa hingegen weiß sehr wohl, dass sich mit Reportagen über Elend gutes Geld verdienen lässt – ohne dass ihre Arbeit einen positiven Effekt auf das Leben der erbarmungswürdigen Interviewpartner hätte.
Ulla Lenze nutzt jede sich bietende Gelegenheit, ihre Protagonistinnen in Gesprächen und inneren Monologen ihre Positionen reflektieren zu lassen und bisweilen wirkt das diskurshafte dieser Gespräche etwas ermüdend – doch dann taucht sie wieder ein in die verwinkelten Gassen der beiden Städte, in die Gerüche, die Brandung des allgegenwärtigen Lärms und Trubels. Und schon reißt ihre sinnliche Prosa wieder mit.
Frank Schorneck
Die Autorin liest am 4.Februar auf der HAM.LIT 2016, der langen Nacht junger Literatur und Musik in Hamburg.
Ulla Lenze: Die endlose Stadt. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, 2015. 320 Seiten, 19,90 Euro