Geschrieben am 3. September 2014 von für Bücher, Litmag

Hannelore Schlaffer: Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt

schlaffer_die cityDas kalte Herz der deutschen Stadt

–Hannelore Schlaffer entdeckt & kartographiert die „City“. Von Wolfram Schütte

Die Germanistin Hannelore Schlaffer gehört zu den herausragenden Vertreterinnen ihres Berufs; und zwar deshalb, weil sie neben ihrer akademischen Tätigkeit ihren privaten essayistisch-journalistischen Passionen in Zeitungen & Zeitschriften nachgeht. Möglicherweise ist sie in dieser „Kür“ auffälliger als bei der Verfolgung ihrer akademischen Pflichten; gewiss aber als Autorin interessanter & origineller.

Zumindest sind ihre journalistischen Arbeiten, z.B. über Mode, bekannter als ihre akademischen Titel. Mit ihrer jüngsten Sammlung verstreuter Essays hat sie sogar einen Preis der SPD gewonnen, obgleich es sich nicht um parteipolitische oder gar sozialdemokratisch inspirierte Prosa handelt. Hannelore Schlaffer beschäftigt sich in „Die City“ in 11 Beiträgen mit dem „Straßenleben in der geplanten Stadt“. Während sie ihr Thema aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet, wundert man sich als davon höchst angetaner Leser, dass noch niemand vor ihr darauf gekommen zu sein scheint. Denn die einst Staub aufwirbelnden Pamphlete „Die gemordete Stadt“ von Wolf Jobst Siedler und Alexander Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, die aus konservativ-architektonischer & linksliberaler sozialpsychologischer Sicht den „Wiederaufbau“ der im 2. Weltkrieg oft weiträumig zerstörten Städte polemisch ins Visier genommen hatten, sind schon 1964/65 erschienen.

Soweit ich sehe, ist Hannelore Schlaffer nun ein halbes Jahrhundert später die erste, wenn nicht sogar einzige seit damals, die unsere städtebauliche metropolitane Moderne kritisch in den phänomenologischen Blick nimmt. Zumindest hat seit den beiden einst sprichwörtlich gewesenen Titeln der Siebziger Jahre kein Architekturkritiker, Ästhetiker oder Soziologe sich der heutigen Stadt in Deutschland vergleichbar sprichwörtlich zugewandt, wiewohl ja seit der Vereinigung der beiden Nachkriegsdeutschlands 1989 deren fast fünfzigjährige unterschiedliche Bau-, bzw. Substanzerhalt-Geschichte beendet wurde & es mannigfach konkrete Gründe gegeben hätte, öffentlich über Erscheinungsbild, Funktion & baulich-soziale Zukunft des Modells Stadt hier & dort zu debattieren. Dass es aber so gut wie keine Debatte drüber gibt – wenn nicht sofort pejorativ entsorgte „Wutbürger“ sich punktuell artikulieren wie in Stuttgart –, offenbart die bestürzende Sprach- & Gedankenlosigkeit unserer korrumpierten Öffentlichkeit, von der wir noch nicht einmal etwas ahnen. „Gesellschaft?“, könnte man da fast Maggie Thatchers bösartige Redeweise zitieren, „gibt´s nicht“ (mehr in Deutschland)!

Bombenteppiche bereiten Konsumtempel vor

Auch Hannelore Schlaffers Buch kann diesem nachhaltigen Manko nicht abhelfen. Aber es könnte, wenn es denn wahrgenommen würde, vielleicht Schule machen & Sozialpsychologen & Städteplaner anregen, die wir ja mit den Frankfurtern Mäckler & Speer haben, weiter & umfassender auszugreifen als es der passionierten Flaneurin Schlaffer möglich & sinnvoll erschien.

So wäre es z.B. wichtig zu wissen, wann der Anglizismus „City“ bei uns das herkömmliche Wort „Innenstadt“ ablöste (& diese dann zuinnerst in die „City“ verwandelte). Wann änderten z.B. die Verkehrsbehörden in unseren Groß- & auch in manchen großen Kleinstädten die Verkehrsschilder zu den sogenannten „City“-Ringen, was meist dem Verlauf der alten Wallanlagen entsprach oder peripheren Verkehrsleitungen?

Obwohl Hannelore Schlaffer recht hat, wenn sie unter der neudeutschen „City“ etwas anderes sieht als die alte Innenstadt, wo oft oder meist am zentralen Markt-Platz Schloß, Burg oder Rathaus & Kirche(n) das gewachsene alte Ambiente bildeten für das städtische Herzstück.

Der 2. Weltkrieg & die alliierten Bombenteppiche, aber auch der geplante Nachkriegsaufbau im Zeichen einer „autogerechten Stadt“ oder einer später „verkehrsberuhigten“ Innenstadt mit Fußgängerzonen haben dafür gesorgt, dass das heutige Herz der bundesdeutschen Städte als so genannte „City“ für einen gleichartig-multifunktionalen Raum sorgt, der für die Besucher aus dem Umland & die Touristen als ein Tempelbezirk des Konsums dient.

Hannelore Schlaffer, die als Literaturwissenschaftlerin & Touristin im In-& Ausland ihre phänomenologischen Feldstudien detailliert betrieben hat, kann sowohl die historisch gewachsene europäische Stadt in ihrem geschichtlichen Wandel vom Mittelalter bis zur Gegenwart überblicken als auch z.B. Beobachtungen über das tageszeitabhängige Auftreten, die Bekleidung oder das Kaufverhalten der heutigen City-Besucher triftig summieren. So ist etwa ihre Bemerkung über die von ihren „shoppenden“ Frauen als hinterher trottende Tütenträger „umfunktionierten“ Pensionäre von der literarischen Dignität eines Wilhelm Genazino.

Wie dieser seine seltsamen Helden durch ihren wechselnd bevölkerten Alltag begleitet, betrachtet Hannelore Schlaffer auch die unterschiedliche Population in den „Citys“ – wobei sich die in den dortigen Büros über den Parterre-Läden arbeitenden Angestellten, wenn sie sich mittags verköstigen, durch die Uniformität ihrer „gehobenen“, „gesitteten“ Bekleidung deutlich abheben von der im Freizeitlook gekleideten Mehrheit der temporären City-Besucher.

Aber die Autorin ist nicht nur als aufmerksame Beobachterin der „City“-Gänger unterwegs: denn Bewohner (außer in hoch gelegenen vereinzelten Luxusappartements) gibt es dort nicht mehr wie noch in den Innenstädten des 19. & 20. Jahrhunderts, was man in Paris noch gut studieren könnte. Auch im Stationären kennt sie sich aus, wenn sie für die City die Vertikale als bestimmend erkennt & die Gebäude auf teuerstem Grund & Boden vom Untergrund bis zum Dachgeschoss durchmustert & ihre verschiedenen (ökonomischen) Funktionen bestimmt. Auch sieht sie in den unterirdischen U-Bahnhöfen die City-Entsprechungen für das, was früher (als Urbanität noch horizontal organisiert war) die Stadttore waren. Die City wird buchstäblich (& metaphorisch gesprochen) aufsteigend erfahren, wobei schon die Bahnhöfe mit ihren Bäckereien & Schnellrestaurants eine olofaktorische Einstimmung in die kulinarischen Variabilitäten der City anbieten.

Frankfurts „MyZeil“ als Idealtypus

In dem mit der längsten Rolltreppe Europas prunkenden, mehrstöckigen Frankfurter Konsumtempel „MyZeil“ sieht die Autorin gewissermaßen das Idealbild, um nicht zu sagen den locus amoenus der modernen deutschen „City“. Was sich in den Passagen des 19. Jahrhunderts als überdachte Flaniermeilen entlang einer Vielzahl von kleinen Geschäften des gehobenen oder exklusiven Konsums entfaltet hatte (und heute noch rudimentär z.B. in Brüsseler oder Pariser Passagen vorhanden ist), versammelt sich in der heutigen City, in der die Straße zum Platz mutiert, zu den immer gleichen Filialketten-Läden der populären Bekleidungsmarken & Gastronomien auf mehreren Stockwerken z. B. in „MyZeil“ – wobei der gesprochene Name sowohl Frankfurterisch klingt wie der geschriebene mit einem angloamerikanischen Hybrid spielt. Architektonisch suggeriert „MyZeil“ eine quasi gummihafte Glasfront, in der scheinbar ein mehrstöckig großer Ball, der verschwunden ist, eine riesige Delle hinterlassen hat.

Hannelore Schlaffers 11 phänomenologische & sozialphilosophische Überlegungen zur City, ihrer Erscheinung, Utopie & Funktion steckt voller erhellender Erkenntnisse, detaillierter Beobachtungen & amüsanter Spekulationen. Schlaffers kühler Stil, den ein vibrierender Film verhaltener Ironie transparent macht, befleißigt sich einer gleichbleibenden intellektuellen Distanz & findet oft zu geglückten aphoristischen Verdichtungen wie z.B.: „Die Gelage“ der von den Kommunen installierten Straßenfeste, mit denen Besucher angelockt werden, „sichern die Zukunft der Stadt, auch wenn sie auf nichts bauen als auf den Hunger in einer Gesellschaft, die immer satt ist“.

An zwei, drei Stellen erlaubt sie sich ganz zarte Andeutungen ihrer Melancholie beim Betrachten der „City“, in deren „ästhetischen Dämmerung das Glück der demokratischen Gleichheit (beginnt)“ – wie sie ihre Betrachtung „von der bedrohlichen Masse zur friedlichen Menge“ beendet, zu der die City ihre Käufer- & Konsumentenmassen herunterdimmt & diszipliniert.

Gleichwohl scheint die City, wenn sie abends von ihren täglichen Besuchern entleert ist, keinen urbanen Raum mehr markieren zu können. Überhaupt hat man den Eindruck, dass das ganze Konzept des sich gegenseitig befeuernden Konsums prekären Zeiten entgegen geht, wie es sich in der jahrelangen Karstadt-Kaufhaus-Krise andeutet. Was wird aus der City, wenn große Leerflächen als memento mori die Kauf- & Konsumlaune verderben?

Wolfram Schütte

Hannelore Schlaffer: Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt. Zu Klampen Verlag, Springe 2013.169 Seiten. 18,00 Euro.

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