Sensibel und empathisch
– Lebensberichte in Büchern gibt es en masse, vor allem von „Verlagen“, bei denen die Autoren für ein Buch bezahlen müssen. Auch manch seriöser Verlag druckt Autobiographisches von unbekannteren Personen, falls das Erlebte von gesellschaftlichem Interesse ist. Ein Psychoanalytiker, der das Kriegsende als sudetendeutsches Flüchtlingskind erlebt hat, später jahrelang psychoanalytisch behandelt wurde und dadurch etwas über den Umgang mit den heutigen Flüchtlingskindern zu sagen hat, fällt ganz bestimmt in diese Kategorie.
Hans Hopf mischt kurze Ausschnitte aus seiner Nachkriegs- und Therapievergangenheit mit Grundsätzlichem über posttraumatische Belastungsstörungen, ihren Ursachen und ihrer Behandlung. Dabei dauert es bis zur zweiten Hälfte (von 232 Seiten), ehe das Buch zu dezidierten Aussagen findet – zum Beispiel darüber, wie Trauma über „Dissoziation“ das Ich des Traumatisierten beschädigen können: „Der ungarische Psychoanalytiker Ferenczi hat das Trauma als eine Erschütterung beschrieben, eine Persönlichkeit aufsprengen kann. Jener Teil, der durch den Schock getötet wird, wird abgespalten.“ „Zwar versucht Dissoziation alle unverdauten Traumareste zu beseitigen; doch gerade darum können sie […] den Traumatisierten jederzeit wieder überfallen. Für den verbleibenden Teil ist es zwar möglich, ein Eigenleben zu führen, doch wird die Persönlichkeit fragmentiert, viele Fähigkeiten werden nicht mehr zur Verfügung stehen.“
Zum Umgang mit Traumatisierten erfährt man beispielsweise, dass man ihnen helfen könne, indem man ihnen einfach zuhört und Ihnen für das Erlittene Respekt zollt. Und dass man die Eltern alleingeflüchteter Kinder unbedingt nachholen sollte, weil traumatisierte Kinder nicht nur eine feste Bindung zu den Eltern bräuchten, sondern ansonsten die Integration, das Erlernen einer neuen Sprache Verrat an der zurückgelassenen Familie wären.
In der Familie sind für den Psychoanalytiker Hopf die klassische Vater-Mutter-Rollenverteilung und das Geschlecht des Kindes entscheidend. Bei der Traumabewältigung zeigt er Gemeinsamkeiten zwischen den Vertriebenen des Weltkriegs (die, obwohl Deutsche, damals genauso auf stumpfe Ablehnung gestoßen seien), aber auch Unterschiede zu den heutigen Flüchtlingen auf, beispielsweise dass es kulturbedingt schwieriger sei, arabische Eltern in eine Therapie einzubinden.
Das Buch endet mit dem erschütternden Fallbeispiel einer (von Hopf therapierten) jungen Äthiopierin und richtig guten Psychoanalysen von Fremdenfeindlichkeit und Fanatisierbarkeit Traumatisierter (die auch Deutsche aus prekären Verhältnissen sein können).
Für ein psychoanalytisches Buch erreicht „Flüchtlingskinder gestern und heute“ erst spät die erwartete Tiefe. Auch ist das Buch wissenschaftlich nicht ganz auf der Höhe der Zeit, beispielsweise gilt das Konstrukt des Neurotizismus (obwohl genuin psychoanalytisch) als überholt. Dafür handelt es sich um einen sehr sensiblen, empathischen Text, dem Nichtexperten des Themas gute Einsichten entnehmen können.
Michael Höfler
Hans Hopf: Flüchtlingskinder gestern und heute – eine Psychoanalyse. Klett-Cotta 2017. 237 Seiten. 20,00 Euro.