Geschrieben am 11. Januar 2014 von für Bücher, Crimemag, Porträts / Interviews

Héctor Tobar: In den Häusern der Barbaren

Am 24. und am 25. Januar finden im Frankfurter Literaturhaus die von der LitProm und vom Weltempfänger veranstalteten „Mittelamerika Literaturtage“ statt. Bei uns als Medienpartner, und weil Mittelamerika eines unserer ständigen Themen ist, finden Sie samstags und mittwochs bis dahin einschlägige Artikel zu Autoren und Themen der Veranstaltung, zu der wir Sie herzlich einladen!

Hector_Tobar_credit_Doug_KnutsonHéctor Tobar ‒ Ein Porträt

Lea Himmelsbach hat sich mit dem Autor und seinem vielschichtigen, spannend zu lesenden Werk beschäftigt.

Die Invasion der Papageien

Angesichts der laufenden Debatte um die US-amerikanische Einwanderungsreform hat der Journalist und Autor Héctor Tobar einen brandaktuellen Roman geschrieben. „In den Häusern der Barbaren“ treibt die Konfrontation von „The People of the State of California“ und ihren illegalen, aber billigen mexikanischen Bediensteten auf die Spitze. Wer glaubt, daraus sei eine reine Anklageschrift amerikanischer Doppelmoral entstanden, täuscht sich: Der Amerikaner Tobar, Sohn guatemaltekischer Einwanderer, kennt nicht nur den alltäglichen Rassismus gegenüber einer unterdrückten Latino-Bevölkerung, sondern auch das privilegierte Leben wohlhabender Gringos.

Héctor_Tobar_In_den_Häusern_der_BarbarenIm Zuge der Senatsabstimmung über das neue Einwanderungsgesetz verkündete John McCain am 25. Juni voller Stolz, dass die USA und Mexiko bald „die am stärksten militarisierte Grenze seit dem Fall der Berliner Mauer“ trennen werde. Das Grenzgebiet soll mit 19.000 Grenzschützern, zusätzlichen Barrieren und der neuesten Überwachungstechnologie, einschließlich Drohnen, in einen kriegsähnlichen Schauplatz verwandelt werden. Nur mit diesem Zugeständnis konnte Präsident Obama überhaupt an eine Verabschiedung seines ehrgeizigen Vorhabens denken, Millionen von illegalen Einwanderern den Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Doch selbst dieser Drahtseilakt stößt auf großen Widerstand: Eine Zustimmung seitens des von Republikanern dominierten Repräsentantenhauses scheint unwahrscheinlich, während sich gleichzeitig Tausende von Demonstranten für eine Reform aussprechen.

Die Spannungen und Widersprüche, die das Thema Immigration im „Land der Einwanderer“ und „unbegrenzten Möglichkeiten“ verursacht, hat Pulitzerpreisträger Héctor Tobar zu einer imposanten Gesellschaftsstudie verdichtet. Statt von den großen politischen Überzeugungen handelt sein Roman „In den Häusern der Barbaren“ von privaten Ängsten und Nöten, die in der Maschinerie des amerikanischen Medien- und Rechtssystems als landesweites Politikum ad absurdum geführt werden: Ein nur kurzer, aber handfester Ehestreit, verbunden mit zwei, drei unglücklichen Zufällen löst einen hysterisierten Prozess um Kindesentführung, elterliche Pflichten, Rassismus und illegale Einwanderer aus – drohnenüberwachte Grenzposten scheinen nicht mehr fern.

Papageien und Mexikaner: Eindringlinge aus dem Süden

Im Mittelpunkt des „Circus Californianus“ steht Araceli N. Ramírez, Mexikanerin in Orange County, „Illegale“, ehemalige Kunststudentin, missgelaunte Köchin und neuerdings Mädchen für alles im Vorzeigehaushalt Torres-Thompson. Als intellektuelle, hart arbeitende Mexikanerin, die unter ihren Möglichkeiten bleibt, ist sie eine schonungslose Beobachterin amerikanischer Verhältnisse und polarisierendes Schauobjekt zugleich. Von ihren Arbeitgebern aufgrund ihrer schroffen Art ironisch als „Little Miss Sunshine“ betitelt, wird sie im Laufe der Geschichte mit einer ganzen Bandbreite von (falschen) Zuschreibungen konfrontiert, die von der armen Mutter (die ihre Kinder zurücklassen musste) über die Psychopathin (mit einem Hang zu „kranken“ Zeichnungen) bis hin zur kriminellen Kindesentführerin und Märtyrerin reichen – nur als Intellektuelle, die sich gezwungen sieht, als Kindermädchen zu arbeiten, sieht sie niemand.

Héctor Tobar, der in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs und als Sohn guatemaltekischer Einwanderer bis heute die Wirkung seiner olivbraunen Hautfarbe zu spüren bekommt, betrachtet Araceli als sein Alter Ego. Als Journalist brachte er es bis zur Los Angeles Times, gewann mit seiner Reportage über die blutigen Unruhen im Zuge der Ermordung Rodney Kings den renommierten Pulitzerpreis und wurde dennoch fast ausschließlich auf Latino-Themen reduziert. In seiner Heimatstadt wird er schon mal mit dem Eisverkäufer verwechselt, auf Parkplätzen drücken ihm wildfremde Menschen ein paar Münzen in die Hand. Der erste Entwurf seines Romans war von diesen Erfahrungen geprägt. 1995 präsentierte er „Farewell California“, doch der Verlag lehnte ab: zu wütend, zu politisch, zu eindimensional. Dann ging er als Büroleiter für sieben Jahre nach Mexiko und Argentinien, lebte im Wohlstand, in einem Haus mit mehreren Bediensteten – und machte sich an die Überarbeitung seines Romans, der prompt mit dem kalifornischen Buchpreis ausgezeichnet und von der New York Times zu einem der besten Bücher des Jahres 2011 gekürt wurde.

Hector_Tobar_Translation_NationEntstanden ist ein multidimensionales Werk über das komplexe Verhältnis zwischen den USA und Mexiko, über die Auswirkungen der zunehmenden Immigration, über das amerikanische Politik-, Rechts- und Mediensystem und nicht zuletzt über soziale Unterschiede, konzentriert in der Stadt Los Angeles, ihren reichen, abgeschotteten Vororten und armen Barrios. Wenn auch nicht völlig frei von Klischees widersetzt sich „In den Häusern der Barbaren“ hierbei jeglicher Schwarz-Weiß-Malerei: Die „Helikopter-Eltern“ Scott und Maureen Torres-Thompson, fortschrittlich, gebildet, überspannt, werden im „kalifornianischen Zirkus“ zu Tätern und Opfern gleichermaßen. Sie bringen den Stein ins Rollen, indem sie den (falschen) Verdacht äußern, ihre illegale mexikanische Hausangestellte Araceli habe ihre Kinder entführt. Ein Irrtum, den sie aus Angst vor dem Jugendamt, dem Eingeständnis eigener Versäumnisse bei der Aufsichtspflicht und der amerikanischen Öffentlichkeit nicht aufklären können.

Was als privates Missverständnis beginnt, verwandelt sich in einen erbitterten Kampf zwischen Einwanderungsgegnern und -befürwortern, die Araceli gleichermaßen instrumentalisieren: Für die einen ist sie Teil einer Invasion von spanischsprachigen Verbrechern, die wie die Papageien „mit ihrem prahlerisch exotischen Gefieder die graubraunen Hausspatzen und die schwarzen Krähen“ stören, die „wie Außerirdische“ aussehen (oder vielleicht nur „wie die Ärmsten der Armen“), die in einem Akt der Verschwörung Kanada, USA und Mexiko zu einem Staat vereinen wollen. Nuestro Himno, die spanische Version der amerikanischen Nationalhymne, die 2006 für Kontroversen sorgte, ist ihnen wohl wie ein erster Schritt in diese Richtung vorgekommen. Für die anderen ist Araceli eine der vielen rechtlosen und ausgebeuteten Immigranten, die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ kommen, am Rande der Gesellschaft schuften und schließlich, vom amerikanischen Justizsystem, verraten in ihre Heimat abgeschoben werden.

Hector_Tobar_Tattooed_Soldier„Wie ein vergessenes, vernachlässigtes Haus“

Tobars Roman lässt sich als Chronik des amerikanischen Traums lesen, mit Araceli als Zeugin eines zunehmenden Verfalls, der sich vom krisengeschüttelten Zuhause der Torres-Thompsons über die heruntergekommenen und verwaisten Gegenden L.A.s bis hin zum fragwürdigen amerikanischen Rechtssystem zieht. Maureens heiß geliebter Tropengarten, le petit Regenwald, der nach der Entlassung des mexikanischen Gärtners langsam verdorrt, wird zum Sinnbild einer sich wandelnden Gesellschaft: Die Mexikaner kümmern sich um die Gärten der Amerikaner, sie kultivieren die Pflanzen und erziehen als Nannys den amerikanischen Nachwuchs. Sie sind das Fundament der Nation. Im Buch beklagt ein hysterischer Fernsehmoderator diesen Umstand in einem flammenden Appell: „Es geht um die Grundlagen unserer Zivilisation! Die Mutterrolle. Warum überlassen wir sie ausgerechnet diesen hoffnungslos ungebildeten Leuten?“ „The Barbarian Nurseries“, wie der ironische Originaltitel lautet, nimmt Bezug auf diese „Unterwanderung“ durch ein als rückständig betrachtetes Volk: Die Hispanics sind in den Häusern, in den Kinderzimmern, in den Gärten, in der Sprache angekommen, sie produzieren Doppelnamen wie Torres-Thompson, sie verändern die amerikanische Identität, transformieren eine ganze Gesellschaft. Ob man nun die „Eindringlinge“, die Sensationslust der Medien oder die dubiosen „Deals“ des amerikanischen Rechtssystems als „barbarisch“ empfindet – mit militarisierten Grenzen lässt sich das Problem jedenfalls nicht bekämpfen.

Tobar, der sich bereits in seinem ersten Roman, „The Tattooed Soldier“ (1998) und der Chronik „Translation Nation: Defining a New American Identity in the Spanish-Speaking United States“ (2005) mit den hispanischen Immigranten und ihrem Einfluss auf die amerikanische Identität auseinandergesetzt hat, schlägt in einem neuen Buch eine ganz andere Richtung ein: 2011 erwarb er die Rechte an den Geschichten der 33 chilenischen Bergarbeiter, die 2010 bei einem Grubenunglück verschüttet und nach 69 Tagen gerettet wurden. Was Tobar besonders interessiert? Die soziale Realität des Landes, Lebensumstände, Identitäten. Ein scharfsinniger Chronist und Schriftsteller, der mit „In den Häusern der Barbaren“ das Thema „Über Grenzen“ der Literaturtage Mittelamerika auf das Trefflichste bereichert.

Lea Himmelsbach

Dieser Artikel erschien zuerst in den LiteraturNachrichten Nr. 119/Winter 2013.

Héctor Tobar: In den Häusern der Barbaren (The Barbarien Nurseries, 2011). Roman. Deutsch von Ingo Herzke. München: Piper 2012. 496 Seiten. 19,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr über den Autor.
Héctor Tobar nimmt an den „Literaturtagen Mittelamerika – Eine Region erzählt“ am 24. und 25. Januar in Frankfurt (Main) teil.
Porträtfoto: © Doug Knutson; Quelle: www.hectortobar.com.

Lea Himmelsbach hat Hispanistik studiert und unterstützt zurzeit litprom als freie Mitarbeiterin bei der Vorbereitung der Literaturtage. Sie lebt in Mannheim.

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