Roman mit Knalleffekt
– Nach seinem grandiosen Monumentalwerk „Waltenberg“ legt der in Tunesien geborene und in Frankreich aufgewachsene Hédi Kaddour einen zunächst irritierenden und dann mit einem genialischen Knalleffekt überzeugenden Roman vor. Von Karsten Herrmann
Auch in „Savoir-vivre“ begegnen uns mit dem Journalisten Max Goffard und der amerikanischen Sängerin Lena Hellström zwei alte Bekannte aus „Waltenberg“ wieder. 1930 sind sie zusammen in London: Sie probt mit einem jungen Pianisten, der zugleich ihr Liebhaber ist, für eine Konzertreihe mit Schumann-Liedern, er ist auf der Jagd nach einer guten Story.
Nach einer Straßen-Parade lernt Goffard Oberst Strether kennen, einer der Helden der mythenumwobenen Schlacht von Mans im August 1914 und „ein Muster an militärischem und protokollarischem Schliff“. Er arbeitet als Maitré d’Hotel in einem großen Restaurant und lässt Max und Lena an langen gemeinsamen Abenden immer tiefer in eine faszinierende Vergangenheit mit einem dunklen Geheimnis blicken.
Hédi Kaddour baut seinen Roman in parallelen Erzählsträngen auf und verbindet dabei Kunst-, Kriegs- und Sozialroman miteinander. Er zeigt, wie eine Frau und Kriegswitwe sich in und nach den Kriegsjahren durchschlagen muss und wie sie um ihr Recht auf Arbeit und freie Meinungsäußerung kämpft – als Sanitäterin, Sekretärin, Flugzeugbauerin, Theaterschauspielerin und schließlich mit einer gewagten Camouflage: „man musste einfach überleben.“
„Savoir vivre“ ist ein Roman, der sich dem Leser zunächst nur stockend erschließt und in einem eigenwilligen Wechsel von erzählenden Passagen und inneren Monologen aufgebaut ist. Erzählt wird in einem reihenden, gehetzten Stil, der die Eleganz und den Rhythmus von „Waltenberg“ ein wenig vermissen lässt. Doch dann liefert Kaddour einen überraschenden Knalleffekt, der die losen Enden seiner Erzählstränge auf verblüffende, ja geradezu genialische Weise verbindet.
Karsten Herrmann
Hédi Kaddour: Savoir-vivre. Aus dem Französischen von Grete Ostewald. Eichborn. 217 Seiten. 18,95 Euro.