Waltenberg ist ein Roman wie aus einer anderen Zeit: Gleichsam monumental wie epochal nimmt er in geschliffener Prosa nicht weniger als unser gesamtes vergangenes Jahrhundert mit seinen großen Utopien, Barbareien und Kapriolen in den Blick und fragt nach der Vernunft der Geschichte. Von Karsten Herrmann
Hédi Kaddour spannt in seinem Roman einen Bogen von den Schlachten des 1. Weltkriegs und die Barbarei des Nationalsozialismus über den Kalten Krieg bis hin zur Perestroika und der Deutschen Wiedervereinigung. Es ist ein Roman über die Politik der Großmächte, über internationale Intrigen, Verrat, Spionage und Gegenspionage, aber auch über Liebe, Foxtrott, Linzer Torte und Vick Vapo Rub.
Hauptprotagonisten sind der deutsche Schriftsteller Hans Kappler und der französische Journalist Max Goffard, die sich in einer Schlacht des 1. Weltkriegs gegenüberstehen und daraufhin lebenslange Freunde werden. Ferner die amerikanische Sängerin Lena Hotspur, die ein schillerndes Doppelleben führt und der junge Michael Lilstein. Er, der Buchenwald und den Gulag überlebt und zum ostdeutschen Meisterspion wird, sieht sich als „ein Mann der Aufklärung, des Lichts“ und muss sich doch am Ende dem Zweifel und der Skepsis beugen: „Wir dienen zu nichts mehr … unser Beruf ist trübsinnig geworden“.
Das geistige Zentrum dieses Romans bildet das „Waldhaus“-Seminar im Schweizer Bergdorf Waltenberg, in dem Intellektuelle, Philosophen, Ökonomen, Politiker, Physiker, Industrielle und schöne Frauen im Frühjahr 1929 große „Ideenschlachten“ austragen um ein neues Europa zu bauen, um die Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ zu konkretisieren. Doch die reale (Großmacht-) Politik geht, wie dieser Roman zeigt, andere Wege und die Vernunft der Geschichte zerschellt immer wieder am absurden Zufall und an schäbigen kleinen Treppenwitzen.
Blick durchs Kaleidoskop
Auf brillante Weise vereint der bisher nur als Lyriker und Essayist in Erscheinung getretene Hédi Kaddour in seinem Debut-Roman Fakt, Fiktion und Spekulation. Die Prosa des gebürtigen Tunesiers, der heute in Frankreich lebt, ist tief durchdrungen vom europäischen Geist des 19. und 20. Jahrhunderts und verblüfft durch ihren geradezu enzyklopädischen Detailreichtum. Sein Stil ist überaus kultiviert und fein geschliffen und verweist auf hochrangige literarische Ahnen wie Thomas Mann und Marcel Proust. Doch zu keinem Zeitpunkt erliegt Kaddour der Gefahr des Epigonalen, sondern verfolgt eine eigene mutige Poetik. Er bietet keinen chronologischen epischen Strom, sondern changiert montagehaft zwischen Zeiten, Orten und Personen und schafft wie bei einem Blick durch das Kaleidoskop immer neue Muster und Konstellationen, die den Leser durchaus herausfordern.
Doch peu á peu kristallisiert sich über die 750 eng bedruckten Seiten ein faszinierendes Panorama des 20. Jahrhunderts mit seinen ungeheuren Verwicklungen und Verwerfungen im Politischen wie Privaten heraus. Am Ende steht in dialektischer Verbindung ein mit leiser Ironie unterlegter Geschichts-Pessimismus neben einem humanistischen „Trotzdem“.
Hédi Kaddou ist eine absolute Entdeckung und Waltenberg ist nicht nur ein überaus bemerkenswerter Roman über das 20. Jahrhundert, sondern hat durchaus auch das Zeug für einen Jahrhundert-Roman.
Karsten Herrmann
Hédi Kaddour: Waltenberg /Waltenberg, 2005).
Aus dem Französischen von Grete Osterwald.
Eichborn 2009. 750 Seiten. 29,90 Euro.