Tragische Verblendung, Mitgiftjäger & väterliche Fürsorge
– Wolfram Schütte über den kapitalen Roman „Washington Square“ von Henry James.
Der hauptsächlich im „Alten Europa“ lebende Bostoner Schriftsteller Henry James (1842/1916) war einer der produktivsten Autoren seiner Zeit, wenn nicht gar aller Zeiten. Was dem regelmäßigen Besucher der großbürgerlichen Abendgesellschaften in London und andernorts als Klatsch & Tratsch zu (weit offenen) Ohren kam, hat er gesammelt & als Bretter angesehen, die ihm die Welt bedeuteten. Er brauchte alle die Stoffe aus dem Gesellschaftsleben dringend, um sich daraus die Plots seiner literarischen Arbeiten zurechtzuzimmern. Vor allem für seine über hundert (z. Teil noch unübersetzten) Erzählungen benötigte er solche gesellschaftlichen ‚Faits divers‘. Denn vom regelmäßigen Verkauf seiner Erzählungen an US-Amerikanische Magazine lebte der Bruder des bekannten Philosophen William James.
Auf diese Weise ist er auch zu den Grundzügen des Geschehens seines 1881 erschienenen Romans „Washington Square“ gekommen. Er spielt in einer großzügigen Villa an dem noch heute existierenden Platz in New York um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In dem weiträumigen Haus lebt der verwitwete Arzt Dr. Sloper mit seiner Tochter Catherine & seiner Schwester, der Pfarrers-Witwe Mrs Penniman. Ihr sprechender Name weist auf ihre bescheidenen ökonomischen Verhältnisse hin.
Geld & was man besitzt spielt generell im Roman & dem Leben seiner Protagonisten eine dominante Rolle. Der hoch angesehene „Damenarzt“ Sloper ist nicht nur durch seine berufliche Tätigkeit in den besten Kreisen der damals boomenden Metropole reich geworden, sondern auch durch die Heirat mit seiner ebenso wohlhabenden wie schönen Frau. Sie hat, früh gestorben, verfügt, dass ihre Tochter Catherine als Mitgift eine beträchtliche Summe aus allein schon ihrem Vermögen erwarten darf. Zusammen mit dem, was ihr Vater besitzt, wäre sie eine der besten Partien New Yorks.
Leider – und das deutet der allwissende, wenn auch nicht immer alles ausplaudernde Erzähler an – hat sie von der Mutter jedoch weder deren Schönheit noch deren Intelligenz & Bildungsinteressen geerbt, was dem darüber betrübten Vater große Sorgen bereitet. Sie verdichten sich zu der Vermutung, der junge, mittellose Morris Townsend (der sich augenblicklich von seiner Schwester aushalten lässt) sei ein raffinierter Mitgiftjäger, der Catherine umwirbt, um als deren Ehemann zu einem sorgenfreien Leben zu gelangen.
Enttäuschte Liebe
Dr. Sloper ist nicht nur aufgrund seiner „Menschenkenntnis“, auf deren „induktive“ Methodik er sich viel zugutehält, zu diesem richtigen Eindruck von dem Hallodri Townsend gekommen. (Man fragt sich, ob Henry James mit dem zweifachen erwähnten „induktiven“ Zaunpfahl winkt, um auf den amerikanischen Philosophen Peirce hinzuweisen.) Sondern für Dr. Sloper scheint es auch ganz & gar ausgeschlossen, dass sich der als sehr schön & eindrucksvoll beschriebene Bewerber ausgerechnet in die in jeder Hinsicht unattraktive Catherine aufrichtig verliebt haben könnte – was er ihm bei einer Begegnung unter vier (Männer-) Augen auch unmissverständlich klar macht, sodass die beiden wissen, woran sie mit sich dran sind.
Vollkommen verständlich ist jedoch, dass die von dem blendenden Townsend mit Liebesschwüren belagerte naiv-einfältige Catherine, unbeirrt von ihres Vaters Widerrede, an den falschen Liebeszauber nachhaltig glaubt. Und dies umso mehr, als sie die
sentimental-romantische Pfarrerswitwe Penniman, die sich nur zu gerne als Kupplerin betätigt, in ihrem verständlichen Liebeswahn nach Kräften unterstützt. Das hässliche Entlein, das sich von einem schönen, wenn auch mittellosen Prinzen wachgeküsst wähnt, ist sogar bereit, sich notfalls gegen den überaus verehrten & gefürchteten Vater zu stellen, um „ihrem Herzen“, sprich Townsend, zu folgen, nachdem eine einjährige Europatour an der Seite ihres kunstsinnigen Vaters es nicht geschafft hat, ihr die Flausen namens Townsend aus dem Kopf zu vertreiben. Als aber Townsend vollends klar wird, dass der reiche Vater seine Tochter enterben würde, wenn sie – wie sie beabsichtigt – mit dem Liebhaber durchbrennt, macht er sich lieber selbst aus dem Staub & täuscht Geschäfte vor, die ihn zwingen, überstürzt New York (und damit seine Verlobte) zu verlassen.
Die Sitzengelassene ist zutiefst derart enttäuscht, dass sie nie mehr einem Verehrer Glauben schenkt & unverheiratet an der Seite ihres Vaters bleibt. Nach dem Tod ihres „siegreichen“ Vaters erfährt sie, dass er den Großteil seines Erbes an öffentliche Einrichtungen gegeben hat, was sie aber nicht sonderlich beschäftigt. Als der geschäftlich nicht erfolgreiche Townsend nach vielen Jahren erneut versucht, sie für sich zu gewinnen, weist sie ihn brüsk zurück.
In kaltem Licht funkelnde Prosa
Die als einfältig, unscheinbar & engstirnig charakterisierte Catherine erscheint vor dem Hintergrund der drei anderen um sie agierenden Personen als die einzige mit Charakter & menschlicher Wärme. Sie ist bereit, „mit vollem Risiko“ sich der väterlichen Fürsorge zu entziehen & seiner Erpressung mit der materiellen Enterbung zu widerstehen, indem sie ein bescheidenes Leben an der Seite des geliebten Mannes favorisiert. Ihr tragisches Pech ist es jedoch, in dem Geliebten nicht den Mitgiftjäger erkennen zu können: ein klassischer Fall von ideologischer Verblendung. Während der New Yorker Bel Ami namens Townsend seine blendende Erscheinung dazu instrumentiert, um durch vorgetäuschte Liebe bei dem dafür dankbaren Mauerblümchen an dessen materielle Habschaften zu gelangen, „verteidigt“ der Vater Dr. Sloper sowohl sein Geburtseigentum (i.e. seine Tochter), als auch deren Erbe gegen den An- & Zugriff des Mitgiftjägers.
Dr.Sloper drohte sogar, seine mittellose Schwester, die mit romantischem Fanatismus gegen ihn agitiert & sich wohl selbst in Townsend ein wenig verliebt hat, vor die Tür zu setzen, wenn es Catherine wagen würde, das Haus am „Washington Square“ an der Seite ihres Geliebten zu verlassen. Aber glücklicherweise kommt es zu diesem Offenbarungseid der brüderlichen Kaltherzigkeit nicht.
Die sich gelegentlich ins Satirische steigernde schneidende Ironie des Autors lässt die vom Bettina Blumenberg übertragene Prosa Henry James´ in kaltem Licht funkeln – wenn die Übersetzerin auch zweimal eine kleine Deklinationsschwäche offenbart.
Wolfram Schütte
Henry James: Washington Square. Roman. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Bettina Blumenberg. Manesse-Verlag, München 2014. 275 Seiten. 24,95 Euro. Porträt Henry James: John Singer Sargent, Quelle.