Geschrieben am 22. Mai 2013 von für Bücher, Litmag

Henry James: Wie alles kam

Henry James_Wie alles kamTransparente Gesellschaftspanoramen

– Wolfram Schütte über Henry James‘ angloamerikanische Erzählungen „Wie alles kam“.

Der amerikanische Schriftsteller Henry James (1843/1916) – der länger & aus Passion in Europa als in den USA gelebt hat – musste seinen Lebensunterhalt mit seiner literarischen Produktion erwirtschaften. Weil er mehr mit Erzählungen für angloamerikanische Zeitschriften verdiente als mit seinen Romanen, gibt es zahlreiche Erzählungen von ihm. Viele davon sind – anders als seine Romane – noch nie ins Deutsche übersetzt worden.

Es sieht aber so aus, als wolle der Manesse-Verlag mit seiner Übersetzerin Ingrid Rein 100 Jahre nach Henry James‘ Tod diesen Zustand nun ändern. Nachdem sie kürzlich eine erste Sammlung von Erzählungen mit dem Titel „Benvolio“ – wie eine von ihnen hieß – publiziert haben, folgen nun in einem anderen der schmucken Manesse-Bändchen fünf weitere unter dem Titel „Wie alles kam“. Dieser Titel gehört zu einer Story, die – wie die bereits separat erschienene längere Erzählung „Drehung der Schraube“ – mit dem Motiv der Gespenster-Erscheinung spielt.

In ihrem Mittelpunkt stehen ein Mann & eine Frau, die etwas verbindet, wovon sie selbst gar nichts wissen: Jedem von ihnen ist in ihrem Leben die Erscheinung eines engen Verwandten & Geliebten zuteil geworden, der im Augenblick seiner kurzzeitigen gespenstischen Anwesenheit gleichzeitig weit davon entfernt gestorben war. Die Erzählerin von „Wie alles kam“ aber, die den Mann heiraten will, kennt die beiden außergewöhnlichen Menschen, die sich ein Leben lang „durch puren Zufall“ nie begegnet sind. So will sie eine Begegnung arrangieren. Dann bekommt sie aber Angst vor dem Rencontre der Gespensterseher & will im letzten Augenblich durch eine Lüge deren Treffen vereiteln. Zu welchen Folgen (für alle Beteiligten) dies führt, wird nicht verraten.

Henry James‘ raffinierte Erzählkunst der Andeutungen, Perspektivwechsel & Innenschauen führt die Leser ins Unabsehbare. Eben diese Windungen & Wendungen seiner Stories machen ihren großen Reiz aus. Immer gehen sie von europäischen Orten aus; oft sind ihre Erzähler Amerikaner in Europa & die Erzählungen fingieren mit ihrer sowohl lückenhaften als auch anekdotischen Struktur den Charakter von gesellschaftlichem Klatsch oder Rumor, der den Erzählern zu Ohren gekommen sei (was in der Tat bei einigen mit wirklichen Ereignissen der Fall gewesen sein soll).

Henry James at age 16

Henry James mit 16

In der längsten Geschichte des Bandes – der überwiegend von der Grausamkeit & der Machtbewusstheit schöner Frauen erzählt – überwältigt Georgina, die reiche New Yorker „Schönheit aus Eisen und Ton“, den mittellosen Marineoffizier aus Neuengland, indem sie sich zwar ihm für eine kurze Zeit hingibt, ihm aber sein Ehrenwort abnimmt, dass er ihre klandestine Heirat geheim hält, von der ihre neureichen Eltern nichts erfahren sollen. Die leibliche Frucht der kurzen körperlichen Begegnung mit dem ehrenhaften Gentleman versteht sie sowohl vor diesem als auch vor ihren Eltern in Europa zu verstecken. Mit einer älteren Bekannten war sie zu Beginn ihrer Schwangerschaft nach Italien gefahren, hatte ihr dort geborenes Kind einer Bauernfamilie übergeben.

Ein Jahrzehnt später geht sie als unerkannte Bigamistin eine zweite, „standesgemäße“ Ehe mit einem New Yorker Geschäftsmann ein. Sie verweigert aber ihrem erstangetrauten Mann, der seine Marinekarriere auf langjährigen Auslandskommandos verfolgt & sich mittlerweile in eine andere Frau verliebt hatte, die Offenbarung ihrer Geheimehe, weil das zum gesellschaftlichen Skandal führen würde. Den an sein Ehrenwort gebundenen Offizier aber hindert sie damit auf immer, eine zweite Ehe einzugehen & endlich einmal glücklich zu werden.

„Georginas Gründe“ bleiben dem von ihr lebenslang Geknebelten verborgen – den Lesern aber nicht die Kälte, Berechnung & Infamie des weiblichen „Monstrums“, das von dem Autor als Inkarnation des kulturlosen, merkantilistischen New Yorker Bürgertums entworfen wurde.

Obwohl selbst in der geschäftstüchtigen Metropole zur Welt gekommen, neigte der Bruder des amerikanischen Philosophen William James dem „alten Europa“ & dessen Kultur mehr zu als den USA, aus deren Staatsbürgerschaft er sich im 1.Weltkrieg zugunsten Großbritanniens entfernte.

Sowohl in der Story „M. Briseux´ Liebchen“ als auch in der fast ein wenig pamphletistisch angelegten Erzählung „Kollaboration“ triumphiert die sich nur der Schönheit & Kunst verpflichtete Neigung über die Enge des kommerziellen, berechnenden, politischen Alltag. In „Kollaboration“ vermittelt eine Amerikanerin, die einen Salon in Paris führt, die künstlerische Zusammenarbeit eines deutschen Librettisten mit einem französischen Musiker. Obwohl – nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 & der viel beschworenen „Erbfeindschaft“ die beiden Künstler in ihren Heimatländern mit Anfeindungen, Karriereschäden & üblen Nachreden rechnen werden müssen, lassen sich die beiden, die sich als Künstler freundschaftlich gefunden haben, von ihrem gemeinsamen Opernvorhaben nicht abbringen.

In „M.Briseux´ Liebchen“ steht eine junge Frau kurz vor der Ehe mit dem gut aussehenden & reichen, aber bloß dekorativen Harold. Sie bemerkt im letzten Augenblick, dass sie beinahe einen Fehler begangen hätte, wenn sie das „Muttersöhnchen“ geheiratet hätte. Am geistlosen, pedantischen Dilettantismus Harolds, der sich aus Müßiggang auf die Malerei geworfen & in diesem Sinne ein Bild von ihr begonnen hatte, erkennt sie seinen darin zutage tretenden schlechten Charakter. Aber nur deshalb, weil der junge mittellose Maler Briseux das misslingende Porträt Harolds mit seiner hinreißenden Kunstfertigkeit ins Gelungene ummalt (& sie vor dem Lebensirrtum an der Seite des mittelmäßigen Harold bewahrt.) Durch Ästhetik zur Erkenntnis – so könnte man den Hintersinn der Erzählung resümieren.

Briseux´ Gemälde – mit dem die Malerkarriere des fiktiven Künstlers begann – war dem Erzähler in einem französischen Provinzmuseum wegen des leuchtenden Gelbs einer Seidenstola, die um die freien Schultern einer jungen Frau drapiert war, aufgefallen – zusammen mit einer älteren Frau, die in die Betrachtung des Bildes vertieft war & die ihm später dann dessen, will sagen: ihre Geschichte erzählt.

Wenn eine andere Story deren Titel „Augengläser“ ihr Geheimnis nicht verriete, das in der weitgespannten Lebensgeschichte der früh verwaisten Flora lange verborgen bleibt, wären die Ups & Downs im Leben der atemberaubend schönen Frau noch rätselhafter als sie es eh schon in James filigraner Prosa sind.

Portrait of Henry James_1913 by John Singer Sargent

James 1913. Gemalt von John Singer Sargent

Die außerordentliche britische Schönheit, die es genießt von aller Welt bewundert zu werden & die sich selbst für vollkommen hält, ist ebenso eitel wie dumm; aber der amerikanische Porträt-Maler, der hier als Erzähler fungiert & als Floras Porträtist an dem Lebens- & Liebesschicksal der umschwärmten Frau immer wieder Teil hat, spricht das nur ganz beiläufig aus, ohne Vorwurf oder Kritik an der schutzlos ihrem Liebreiz und ihrer Lebensfreude ausgelieferten Frau. Zeitweise verliert er Flora aus den Augen, weil er sich in den USA aufhält & glaubt sie mit einem reichen englischen Adligen verheiratet – um dann durch andere zu erfahren, dass der adlige Galan sie verschmäht hatte, als er von ihrem Augenleiden erfuhr & sie ein unscheinbarer bürgerlicher Verehrer geheiratet hat.

Nach Jahren seiner Abwesenheit wieder in London & an der sommerlichen Südküste Englands, wo ein großer Teil der Erzählung spielt, sieht der aus Amerika nach England zurückgekehrte Erzähler die älter gewordene, aber immer noch sehr schöne Flora in Covent Garden während einer Wagneroper wieder. Er sucht sie in ihrer Loge auf, weil er glaubt, sie habe ihm im Parterre ein aufforderndes Zeichen ihres Wiederkennens zugeworfen.

Aber an einem kleinen taktilen Verhalten Floras wird ihm klar, dass er es jetzt mit einer Blinden zu tun hat, die ihre Behinderung gleichwohl verschweigt. Ihr sie über alles verehrender Mann unterstützt sie offenbar dabei, weiterhin von makelloser Schönheit in der Öffentlichkeit zu erscheinen.

So komplex die Handlungsführungen aller dieser Erzählungen aus dem angloamerikanischen Gesellschaftsleben auch sein mögen, die wahre Meisterschaft des Autors Henry James muss man jedoch in seiner eleganten Fähigkeit sehen, über seine Nebenfiguren ein Netz von subtilen Einsichten in die menschliche Psyche unter dem Einfluss der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Maximen & Zwänge zu knüpfen, das ungemein reich & tiefgründig ist. Die „plots“ der hier versammelten Erzählungen werden durch diese psychologischen Abschattierungen panoramatisch & atmosphärisch erweitert: zu großen literarischen Gemälden, transparent gemacht durch einen ebenso zarten wie gelegentlich auch ironischen „Pinselstrich“.

Leider teilt aber der Autor in „Augengläser“ auch den virulenten bürgerlichen Antisemitismus seiner Zeit, der sich in der Beschreibung der südenglischen Urlaubsgesellschaft hässlich bemerkbar macht.

Wolfram Schütte

Henry James: Wie alles kam. Fünf Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Ingrid Rein. Nachwort von Angela Schader, Manesse-Verlag, München 2013. 477 Seiten. 22.95 Euro. Foto 1: Wikimedia Commons, Quelle. Porträt Henry James: John Singer Sargent, Quelle.

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