Das Rauschen der Quellen
– Wenn man, wie Holger Hof, sich schon seit über einem Vierteljahrhundert mit Werk und Nachlass Gottfried Benns beschäftigt, mag es nur konsequent erscheinen, aus dieser Beschäftigung die Summe in Form einer großen Biografie zu ziehen. Dabei soll keineswegs Eitelkeit unterstellt werden, denn wer sollte die Quellen besser kennen als dieser verdienstvolle Mitherausgeber der Werkausgabe und Kompilator einer hervorragenden Bildbiografie? Allein, es zeigt sich anhand dieser zum 125. Geburts- und 55. Todestag des Dichters erschienenen Biografie, dass aus der Vertiefung allein noch kein Standardwerk entstehen muss. Von Joe Paul Kroll
Verlage und Feuilletons haben sich wohl dahingehend verschworen, dass Autorenbiografien nur zu solchen, möglichst runden, Gedenktagen erscheinen dürfen. Runder waren natürlich die fünf Jahre zurückliegenden Anniversarien, zu denen so wichtige Bücher erschienen wie die umfassende Biografie von Gunnar Decker und die etwas enger fokussierten Studien von Joachim Dyck und Helmut Lethen. Die Benn-Biografik, die in den 15 Jahren davor vor allem die etwas idiosynkratischen (aber durchaus lesenswerten) Bücher von Fritz J. Raddatz und Werner Rübe hervorgebracht hatte, schien damit auf Vordermann gebracht zu sein.
So glaubt man denn auch aus dem Klappentext des Verlags Klett-Cotta, der Benns Werk rührig in immer neuen Sammlungen und Einzelausgaben vermarktet, einen gewissen Legitimationsdruck herauszulesen: „In ‚Der Mann ohne Gedächtnis’ breitet Holger Hof bislang unerschlossene Tageskalender aus und zeichnet das Tableau eines faszinierenden Schriftstellers.“ Versprochen wird also zunächst nur eine neue Quelle, über deren Wert wohlweislich keine allzu hochfahrenden Aussagen gemacht werden.
39 Taschenkalender
Es handelt sich bei diesen Diarien um 39 Taschenkalender, die Benn zwischen 1934 und 1956 mit persönlichen Aufzeichnungen füllte. Man dürfte sich davon ein Korrektiv zu den verschiedenen Selbstinszenierungen seinen Briefpartner gegenüber erwarten, allen voran den Briefen an den Bremer Kaufmann F. W. Oelze. Doch die Details, die hier ans Tageslicht kommen, sind zumeist eher prosaischer Art. Hauptquelle der Selbstzeugnisse bleibt nach wie vor der umfangreiche Briefwechsel, zu dessen Edition Hof einen wesentlichen Beitrag geleistet hat.
Reden wir zunächst von der Anlage des Werkes: Hof geht chronologisch vor, bricht aber die Jahre 1943–1945 heraus. Darin wiederum liegt der Fokus weniger auf der Zeit, die Benn als Oberstabsarzt in Landsberg an der Warthe zubrachte, als auf der anschließenden Flucht nach Berlin und dem Selbstmord seiner zweiten Ehefrau, die sich auf dem Land vor der heranrückenden Roten Armee versteckt hielt. Den Schwerpunkt bilden also nicht die so wichtigen Gedichte und Prosatexte der kurzen Landsberger Zeit, sondern Benns eigener Kampf ums Überleben. Mag dieser Abschnitt also vor allem seiner Dramatik wegen vorangestellt worden sein, so gibt er immerhin einen recht deutlichen Hinweis auf das, worum es sich bei diesem Buch handelt: Nicht um eine intellektuelle Biografie, sondern über weite Strecken um ein von der Werkdeutung absehendes Lebensbild.
Damit steht Hofs Biografie in deutlichem Kontrast zu ihrer unmittelbaren Vorgängerin, jener von Gunnar Decker, der immer auch auf das Werk und insbesondere auf Benns geistige Prägungen, seine Lektüren und den Austausch mit seinen Zeitgenossen eingeht. Für die Forschung ist es sicherlich gut, nun eine möglichst faktenreiche Schilderung von Benns Lebensweg vorliegen zu haben; eine packende Lektüre wird daraus jedoch nicht. Man sieht diesem Buch zu viel von der Mühe des Autors an, sich mit seinem Werk neben der bereits zahlreich versammelten und oben genannten Konkurrenz zu behaupten.
Neuheit der Stunde
Dabei scheint sich Hof zunächst etwas ganz anderes vorgenommen zu haben. So erklärt er in der Einleitung seinen Buchtitel: „Besessen von Unerinnerlichkeit, schuf er [sc. Benn] das Erträgliche und aus dem Vergessen des Gestern die Neuheit der Stunde.“ Damit wird mehr Interpretation versprochen als hinterher eingehalten wird, und auch der Duktus ist an dieser Stelle viel stärker um Literarizität bemüht. Dass dieser hohe Ton nicht durchgehalten wird, hat allerdings auch sein Gutes, wenn man Sätze liest wie: „Bereits früh holte den vom Gestaltungswillen Getriebenen allerdings ein anderes großes Gesetz ein …“ Mit diesem Hang zum Stabreim wird sich Hof vielleicht bei Benn selbst angesteckt haben, den er wie folgt zitiert und kommentiert: „Dass die ‚roten Reiter schon ihre Rosse in der Warthe tränkten’, darf freilich nicht wörtlich genommen werden, denn die klirrende Kälte hatte den Nebenfluss der Oder schon zufrieren lassen …“
Dass man Benn als Militärmeteorologen nicht ganz ernst nehmen darf, ist nun fürwahr keine umwerfende Erkenntnis. Allerdings scheint Hof überhaupt einen gewissen Wert auf die akkurate Schilderung der Witterungsverhältnisse und anderer Details zu legen. So erfahren wir: „Benn erreichte nach etwas mehr als drei Stunden im D-Zug um 12 Uhr 51 Hannover und verließ bei Kälte und Regen den Hauptbahnhof, vor sich das bronzene Standbild König Ernst Augusts in Husarenuniform hoch zu Ross.“ So beginnen Benns Jahre in Hannover (1935–1937), ein kurzer Lebensabschnitt, dessen Bedeutung jedoch sehr hoch eingeschätzt werden muss. Benn ließ sich als Arzt in Uniform reaktivieren und nannte dies die „aristokratische“ Form der Emigration. In der von ihm als drückend empfundenen Atmosphäre der Provinz schrieb er jene Gedichte, die den Kern der 1948 erschienenen „Statischen Gedichte“ bilden sollten, mit denen er sein großes Comeback einläutete. In Verbindung mit der zeitgleich entstandenen Prosa bringen sie konzis zum Ausdruck, was Benn unter innerer Emigration verstand, wie ihm dabei zumute war und wie er sich stilisierte.
Stark im Dokumentarischen
Doch ausgerechnet diese Jahre werden von Hof recht knapp abgehandelt – vielleicht weil schon anderswo so viel dazu gesagt wurde? Immerhin ergänzt er unser Verständnis dieser Jahre durch zwei Dokumente von Benns Hand: Erstens die der Freundin Elinor Büller zugeeignete „Bierode“ („Welch gewaltiger Schritt der Natur/ Bis zum Gerstensaft!“); zweitens ein langer Brief an den Heeressanitätsinspektor, der die für Benns vermeintlich „aristokratische“ Emigration typische Mischung aus Opportunismus und der durchaus reellen Angst um die bürgerliche Existenz aufweist. Gerade um die Jahre der inneren Emigration hat Benn ein dichtes Netz aus Mythen gesponnen. Hofs Versuche zur Klärung bleiben vorsichtig, und es ist vielleicht kein grundsätzlicher Fehler, angesichts der Vielzahl der Deutungsversuche hier einmal Zurückhaltung zu üben und die Quellen für sich sprechen zu lassen.
Wo der Interpret zurücktritt, bleibt aber oft nicht viel mehr als ein Rauschen. Die Tagebücher verdeutlichen dies: Manches darin ist durchaus interessant und alles irgendwie illustrativ, es bringt den Leser einer vermeintlichen Wahrheit über Gottfried Benn aber auch nicht näher als ein Verfahren, das eher literarisch verknüpft und deutet. Denn wie die Geschichtsschreibung zeichnet auch die Biografie als Gattung sich durch das aus, was sie aus ihren Quellen macht.
Hofs Biografie vermittelt das Gefühl, zwar die Lebensumstände Benns nun besser zu kennen als zuvor, aber weder den Menschen noch sein Werk besser zu verstehen. Es ist sicherlich ganz nett zu wissen, wann und von wem Benn das letzte Carepaket erhielt (im Januar 1950 von George Grosz, darin: sechs Pfund Kaffee), Decker aber lässt den Leser mit dem Wunsch zurück, auch den von Benn verehrten Heinrich Mann wiederzulesen – eine Leistung anderer Art. Dieses Buch, dessen Stärke im Dokumentarischen liegt, spricht wohl den detailversessenen Benn-Forscher viel eher an als den Leser, der sich eine Gesamtschau auf Leben und Werk erhofft.
Joe Paul Kroll
Holger Hof: Gottfried Benn – Der Mann ohne Gedächtnis. Eine Biographie. Stuttgart: Verlag Klett-Cotta 2011. 539 Seiten. 26,95 Euro. Zur Webseite des Buches (mit Leseprobe).