Aus der Welt gefallen
– Mit „Nördlich der Mondberge“ legt die unter einem Pseudonym schreibende und in Suffolk geborene Engländerin I.J. Kay ein ziemlich „verrücktes“ Debüt vor. Von Karsten Herrmann
Aus dem Spektrum des Herkömmlichen herausgerückt ist hier die die Wahrnehmung der Protagonistin und ihre Sprache, zeitlich versetzt ist die Chronologie der Ereignisse und durcheinandergerückt ist schließlich auch die Form des Romans.
I. J. Kays Ich-Erzählerin, die mal unter dem Namen Lulu und mal unter dem Namen Catherine firmiert, kommt nach zehn Jahren aus dem Gefängnis. In einer Bruchbude, in der ständig der Strom abgestellt wird, feiert sie mit 17 Pence in der Tasche ihren 31. Geburtstag und notiert: „Mein Leben passt in einen Schuhkarton“. Während sie versucht, Fuß zu fassen, brechen sich verschwommene Kindheitserinnerungen Bahn: An die Mutter, die sich als Künstlerin und von ihren Kindern eigentlich nur belästigt fühlt, an ihren gewalttätigen Vater, ihren kleinen und großen Bruder, der früh aus der Familie verschwand.
Die Kindheitserinnerungen kommen in einer ganz eigenen Sprache mit lautmalerischen und sinnlich-poetischen Elementen daher. Schemenhaft nähern sie sich auch grausamen Ereignissen und Verbrechen, die aber unsagbar und tief im Inneren des Erzählstroms eingekapselt bleiben. Deutlicher tritt die Traum- und Fantasiewelt hervor, in die sich Lulu flüchtet: Afrika und die Mondberge, von denen sie in einem Buch gelesen hatte, dass sie von ihren Großeltern geschenkt bekam. Hier findet sie, die selber auch afrikanische Wurzeln zu haben scheint, ihre Heimstatt, hier lebt sie ihre Abenteuer.
Und genau dahin bricht Lulu auf, als sie nach ihrer Gefängnisentlassung unerwarteter Weise doch noch eine Entschädigung (für einen ärztlichen Kunstfehler?) bekommt. Hier will sie, die sich selbst oft distanziert als „sie“ bezeichnet und beobachtet, sich selber finden – oder aber auch eher dass verlieren, was sie tief im Inneren gefangen hält und ein normales Leben unmöglich macht.
„Nördlich der Mondberge“ ist ein ebenso packendes und berührendes wie verstörendes und schockierendes Buch. Es ist auf Lücke geschrieben und voller Brüche und Fragmente, die dem Leser die Orientierung in Raum und Zeit erschweren und jede Gewissheit nehmen. I.J. Kays Prosa ist in radikaler Weise auf die dissoziierte Weltwahrnehmung ihrer Protagonistin ausgerichtet und entfaltet dabei einen ganz eigenwilligen Sound und Sog. „Nördlich der Mondberge“ ist ein Roman, der ein bisschen aus der Welt gefallen ist.
Karsten Herrmann
I.J. Kay: Nördlich der Mondberge (Mountains of the Moon, 2013). Aus dem Englischen von Steffen Jacobs. Kiepenheuer & Witsch 2015. 464 Seiten. 22,99 Euro.