Einfach herzerwärmend und aufregend, dieser Kalte Krieg
Die beiden Romane „Honig“ und „Unschuldige“ von Ian McEwan spielen in England und Berlin zur Blütezeit des Kalten Krieges. Es geht um Spionage, geheimdienstlich geförderte politische Indoktrination junger Literaten, um Liebesaffären und um die nostalgische Verklärung einer Epoche, in der man noch altvertraute Feindbilder pflegen konnte. Von Peter Münder
Wie lange braucht man eigentlich, um eine robuste männliche Leiche in handliche kleine Stücke zu zersägen? Die Thematisierung dieses Handwerkerproblems erwartet man ja eher von forensisch abgehärteten, stoischen Blut- und Grusel-Autoren wie Patricia Cornwell oder dem Hannibal-Lecter-Erfinder Thomas Harris. Doch es war der sensible intellektuelle Schöngeist Ian McEwan, 65, der sich sonst um Klimaerwärmung („Solar“), Sterbehilfe („Amsterdam“) oder heikle Familienkonflikte („Zementgarten“, „Abbitte“) sorgt, den dieses pikante Detail so brennend interessierte, dass er den renommierten Londoner Uni-Pathologen Michael Dunnill zwecks einer Obduktionsbegutachtung kontaktierte, um aus erster Hand zu eruieren, wie die hohe Kunst des Zersägens von professionellen Forensikern tatsächlich bewerkstelligt wird.
Slapstick & Zerstückeln
Im Roman „Unschuldige“ (von 1990) hat das Liebespaar Leonard Marnham und die Deutsche Maria Louise Eckdorf, Übersetzerin in einer Autowerkstatt der britischen Armee in Spandau, das unerquickliche Problem, den toten Ex von Maria irgendwie unauffällig entsorgen zu müssen, was im Nachkriegsberlin von 1955, wo sich alle argwöhnisch beobachten, keine leichte Aufgabe ist. Marias Verflossener Otto, meistens betrunken und pleite, hatte sich im Vollrausch in ihrem Schlafzimmerschrank versteckt, war dort eingeschlafen und kam dann beim Handgemenge mit Leonard Marnham ums Leben. Weder wollte der in Berlin vom englischen Geheimdienst zum Abhören russischer Telefonleitungen eingesetzte Techniker Marnham etwas mit der Berliner Polizei zu tun haben noch seine Geliebte Maria ‒ also lautet ihre Devise: Zerstückeln und Entsorgen.
Es ist spannend zu verfolgen, wie McEwan die Erkenntnisse seiner akribischen wissenschaftlichen Recherchen keineswegs zu bedeutungsschwangeren Sentenzen überhöht, sondern sie in ironisch überhöhten kurzen Slapstick-Einlagen verarbeitet. Als der völlig überforderte Lastenträger Marnham die zwei schweren Koffer nämlich mit den feinsäuberlich verstauten Leichenteilen durch Berlin schleppt und ein aufgeregter Hund Witterung zum Fleisch aufnimmt und sich in einem der Koffer verbeißt, heißt es: „Im Nebelschleier seines Urinstinkts erkannte er die einmalige Chance, ungestraft einen Menschen zu verschlingen und seine wölfischen Vorfahren für zehntausend Jahre der Unterwerfung zu rächen.“
Sozialkritik & Satire
Typisch McEwan: von bestechender satirischer Brillanz ‒ aber auch charakteristisch für das permanente Bohren des Engländers nach tiefer liegenden Schichten und Erkenntnissen, die unterhalb alltäglicher Spießerbanalitäten liegen und sich mit literarischem Gewinn verwerten lassen. Die Verschränkung von Sozialkritik und Satire, angereichert mit drastischen Tabubrüchen und locker aufbereiteten wissenschaftlichen Analysen- das ist schließlich sein Markenzeichen. „Was interessieren mich die üblichen Genre-Regeln, die Erwartungshaltung von Lesern und Kritikern“ ist seine Devise ‒ und diese oft mit kritisch-ironischer Distanz gekoppelte risikofreudige Einstellung des schon seit Jahren als Nobelpreiskandidat gehandelten Autors kann man nur bewundern.
Sie macht auch „Solar“ (2010) zum grandiosen Werk: Denn der Physik-Nobelpreisträger Michael Beard, ein lüsterner, egomanischer Vielfraß, der obendrein noch die Ideen für neue Umwelttechnologien von einem jüngeren Kollegen klaut, wird trotz seiner unerträglichen Marotten und charakterlichen Defizite zur komischen, beinah sympathischen Figur. Er kann nämlich all die Propheten einer schönen neuen Welt mit minimalen CO2-Werten nicht ernst nehmen ‒ obwohl er sie ja selbst anführen und mit seiner neuartigen Photosynthese-Erfindung überzeugen will ‒ weil er mit seiner zynisch-pragmatischen Dialektik die Schwachstellen menschlicher Eitelkeiten diagnostiziert und bei einer Expedition nach Spitzbergen registriert, dass diese Umweltapostel, die aus angeblich apokalyptischen Emissionswerten ihren Honig für die Verkündung wohlklingender Thesen saugen, noch nicht einmal Ordnung im Stiefel-Kabuff schaffen können und anderen Expeditionsteilnehmern ihre Ausrüstung stehlen, um dann bei Minus 40 Grad mit Motorschlitten auf dem Eis herumzukurven. Auch für „Solar“ war McEwan übrigens selbst auf so einer Arktisexpedition unterwegs und hat sich intensiv in die gesamte Umweltproblematik und die entsprechende Erforschung neuer Technologien reingearbeitet.
Seinen Spitznamen Ian „Mac Abre“ erwarb er sich mit den düsteren Plots der ersten Romane, als er etwa Geschwister-Inzest und einbetonierte Leichen im „Zementgarten“ (1978) beschrieb und verstörende, furchterregende Szenarios entwickelte, denen der übliche bildungsbeflissene Leser damals noch nicht so recht gewachsen war. In „Comfort of Strangers“ (1981, verfilmt 1990, Drehbuch von Harold Pinter) mischt McEwan Grusel-Horror und Hardcore-Sex zu einem blutrünstig-provozierenden, allerdings auch ziemlich effekthascherisch inszeniertem Mix. Mit Mainstream-Biedermaier oder Poesiealben-Plüschgewittern hat Mr. Mac Abre jedenfalls nichts am Hut.
Kalter Krieg und Roman
Als „Geschenk für jeden Romancier“ bezeichnete McEwan den Kalten Krieg in einem Guardian-Artikel, den man getrost als „Sweet Tooth“ (so der „Honig“-Originaltitel)- Begleittext interpretieren kann. Denn der vom Westen und dem Ostblock aufgebotene riesige Aufwand an Geheimniskrämerei, Verdrehungen und mörderischem Verrat, von Nuklearwaffen, riesigen Armeen und einer gigantischen, auf Bespitzelung und Propaganda spezialisierten Bürokraten-Maschinerie habe eine wahnwitzige Eskalationsmaschinerie in Schwung gehalten, meint McEwan. Und begrenzte Konflikte konnten jederzeit in einem Atomkrieg enden. Dazu kamen noch die von Intellektuellen und Künstlern erbittert diskutierten Streitfragen über Demokratie und Meinungsfreiheit.
Die 1949 im New Yorker Waldorf-Hotel veranstaltete Kultur-und Wissenschaftskonferenz für den Weltfrieden lieferte McEwan eine Blaupause dieser Konfrontation in einem heiß umkämpften Mikrokosmos. Denn diese Veranstaltung war damals ein gigantischer sowjetischer Propaganda-Coup gewesen: Organisiert von den Russen, mit Stalin als Antreiber, der Schostakowitsch befahl, unbedingt teilzunehmen. Amerikaner und Briten versuchten dann ebenfalls, mit heimlich vom CIA initiierten und subventionierten Magazinen wie dem „Encounter“ und dem „Monat“ Kulturpolitik zu betreiben, die natürlich gegen eine „kommunistische“ Infiltration aus dem Osten gerichtet war.
Auch Kunstausstellungen wurden finanziert; selbst die Übersetzungen von Orwells „Farm der Tiere“ in siebzehn Fremdsprachen subventionierte der englische Geheimdienst MI6. Dieser Hintergrund war der Ausgangspunkt für McEwans Plot des Unternehmens „Sweet Tooth“, den er zum theatralischen Intrigenspiel zuspitzt: Wenn die junge MI5-Agentin Serena, die als Mathematik-Studentin in Cambridge zwar nicht so richtig mit den Nerds mithalten konnte, dafür aber wöchentlich drei bis vier Romane ‒ vom amerikanischen Edelkitsch bis zu Jane Austen ‒ lesen kann und junge vielversprechende Autoren mit üppigen Finanzpolstern fördert, dann kann der unterstützte, hoch talentierte Autor Tom Haley, in den sie sich verliebt hat, sich natürlich auch Gedanken machen, wer tatsächlich hinter dieser offenbar so altruistischen Mäzenaten-Operation steckt und eigene Ermittlungen durchführen.
Dieses Geflecht aus Lovestory und Spionagedrama aus Zeiten, als die Spione immer seltener aus der Kälte kamen, macht den besonderen Reiz von „Honig“ aus. Faszinierend ist dabei vor allem das Psychogramm der Antiheldin Serena: als Bischofstochter mit einem leicht nymphomanischen Touch ausgerüstet; eine intelligente, selbstbewusste Schachspielerin, die sich aber auch leicht einschüchtern lässt von ihren gruseligen, klatschseligen und zum Mobbing neigenden Kolleginnen ‒ eine schillernde, betörende Figur, die eben auch ihr eigenes doppeltes Süppchen kocht, aus dem nur wenige schlau werden. „The spy who liked it hot“ nannte sie die New York Times.
Die deutsche Frage
Zum „Autoren-Geschenk“ des Kalten Krieges zählt McEwan natürlich auch die damit verbundenen Recherchen. Da er als Sohn eines in Asien und Nordafrika stationierten Soldaten auch in Deutschland lebte und sich stark für die deutsche Frage interessierte, stellte er für „Honig“ und die Abhöraktionen im legendären Tunnel auch eigene Recherchen in Berlin an und durchwühlte noch vor dem Fall der Mauer unter den auf ihn gerichteten VOPO-Ferngläsern das Gelände über dem Abhörtunnel. Er fand tatsächlich noch alte Telefonkabel, zerfetzte Sackleinenreste aus Chicago und marode Getriebeteile. „Da wurde ich von einem nostalgischen Taumel erfasst, von der Atmosphäre einer Zeit, die ich nie gekannt hatte“, erinnerte er sich im großen Paris Review ‒ Interview und bekannte: „Ich war in einer fremden Stadt, konnte mich in diese vergangenen Jahre hineinversetzen und mir selbst suggerieren, eine meiner Romanfiguren zu sein.“ Diese Faszination, die der Autor beim Recherchieren und Schreiben empfindet, sie überträgt sich ungefiltert auf den Leser und löst den überwältigenden Erzählsog aus, den dieser grandiose Erzähler so souverän evoziert.
Peter Münder
Ian McEwan: Honig (Sweet Toooth, 2013) Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Zürich: Diogenes 2013. 463 Seiten 22,90 Euro. E-Book 20,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr zu Ian McEwan.
Ders.: Unschuldige. (The Innocent,1990) Roman- Aus dem Engl. von Hans-Christian Oeser. Zürich: Diogenes 1993, 377 S., 10,90,- Euro.
McEwan Interview: The Paris Review – The Art of Fiction No. 173
Daniel Zalewski: The Background Hum. The New Yorker, 23. Febr. 2009
Ian McEwan on „Sweet Tooth“, The Guardian, 13. Juli 2013
Ijoma Mangold: „Wie erbärmlich ist diese Logik!“ Die ZEIT, 19. Sept. 2013