Heimweh nach der Welt
Die Lebenserinnerungen von Ilma Rakusa, gelesen von Carl Wilhelm Macke
Am 27. Juli 1991 wurde in der kroatischen Kraina der deutsche Journalist Egon Scotland aus dem Hinterhalt erschossen. Im Auftrag der Süddeutschen Zeitung berichtete er über die in jenen Jahren entflammte Gewalt zwischen nationalistischen Kroaten und Serben. Nach dem Tod des Journalisten wurde in München ein Verein gegründet, der sich der Hilfe für Journalisten aus Kriegsgebieten widmete. Seit vielen Jahren koordiniere ich die Arbeit dieser kleinen NGO zum Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit. Warum dieser umwegige biografische Ausflug, um die Erinnerungen einer Schweizer Übersetzerin vorzustellen? Nach dem Tod des Kollegen und Freundes wollte ich mehr wissen über die Geschichte, vor allem über die Literatur des Balkans, der mir bis dahin nicht viel mehr als eine „Black Box“ gewesen ist. Mal abgesehen vom „Balkan Grill“ in meiner Nachbarschaft und einigen Fußballspielern mit fremd klingenden Namen.
Ein Kenner der Literatur jener Länder, die wir „im Westen“ etwas verallgemeinernd „den Balkan“ nennen, empfahl mir einige Autoren, deren Namen ich nicht kannte: Ivo Andric’, Boran Cosic’, Miodrad Pavlovic’, Alexandr Tišma, Dzevad Karahasan, vor allem aber den als Emigrant in Paris lebenden Danilo Kiš. Sich langsam in diese literarische Terra incognita hineinlesend, stieß ich dabei auch immer wieder auf den Namen von Ilma Rakusa. Einige Bücher der genannten Autoren hatte sie übersetzt und mit einem Nachwort versehen. Ilma Rakusa wurde mir – und vermutlich auch anderen Lesern, die sich auf Erkundungsreise auf dem Balkan befanden – zu einer Art intellektuellen Reiseführerin. Dem, was sie in ihren Essays und Rezensionen zum Lesen empfahl, konnte man sich ohne Zögern anvertrauen. Nicht zuletzt durch ihre Kenntnis einiger der auf dem Balkan repräsentierten Sprachen wurde einem diese Region immer vertrauter und näher.
Aber erst jetzt, nach der Publizierung ihrer Lebenserinnerungen mit dem wunderbaren Titel Mehr Meer weiß man endlich auch mehr von der Biografie jener Frau , die das deutschsprachige Lesepublikum in den letzten Jahrzehnten an die Literaturen des Balkans herangeführt hat.
Poesie des Verfalls
Wie nur wenige personifiziert Ilma Rakusa das für Südosteuropa so typische „ Kulturen- und Sprachengemisch“. Als Kind eines Slowenen und einer Ungarin geboren in der Slowakei, Kindheit in Slowenien, Ungarn und Italien, später dann in Zürich niedergelassen, wo sie bis heute lebt. Studierte unter anderem in Paris und dann bis heute immer auf Reisen quer durch Europa bis hin nach Rußland, in dessen Sprache sie genauso heimisch ist wie in der Literaturgeschichte. Große Liebhaberin der klassischen Musik und der Kunstgeschichte Mitteleuropas. Man kann über dieses Leben, diese Vielfalt an Interessen und Sprachkompetenzen nur staunen, manchmal auch neidisch werden. Und alles das präsentiert Ilma Rakusa in ihrer Autobiografie mit einer Leichtigkeit und, das vor allem, in einer oft wunderbar poetischen Sprache. Mehr Meer sieht, spürt, riecht sie ganz besonders während der Kindheitstage in Triest. „Ich spreche von wundstillen Tagen, wenn das Meer fast spiegelglatt war, ohne Wellengang. Oder nur leicht gekräuselt. Prickelnd-wiegend, mit vereinzelten kühleren Strömungen. Winzige Fische blitzten auf. Ich jauchzte vor Glück. Genug war nie genug.“
Nostalgisch sind ihre Erinnerungen nie, fast immer sehr nüchtern, Verluste und Gewinne einer vergangenen Zeit abwägend. Immer auf der Suche nach den Rissen in der Geschichte, nicht nach den glatten Fassaden, den heroischen patriotischen Bekenntnissen. „Die Romreise machte mir fast schlagartig bewußt, was ich in Zürich so vermißte: die Poesie des Verfalls, das lebensvolle Chaos, die Risse im Gebälk. Lauter propere, polierte Oberflächen.“ Wer wie Ilma Rakusa die Widersprüche und Unebenheiten liebt, ist genau die richtige Frau für den Balkan. In ihren Erinnerungen aber konzentriert sie sich fast ausschließlich auf ihre Kindheits- und Jugendjahre am Rande, aber nicht im Zentrum des Balkans. Triest, Zürich, dann Paris stehen im Mittelpunkt des biografischen Erinnerns. Sie lässt die Leser teilhaben an der langsamen Erkundung ihrer Aufenthaltsorte: Ljubljana, Triest, Budapest, vor allem Zürich, dann das Paris der frühen sechziger Jahre, das Prag des von russischen Panzern niedergewalzten „Reformfrühlings“ von 1968, dann das Leningrad der dunklen Breschnew-Zeit, wo sie neben anderen dissidenten Künstlern den späteren Nobelpreisträger Joseph Brodsky trifft.
Keine konventionelle Memoirenliteratur
Auch wenn der fortlaufende Text sich entlang eines chronologischen Fadens hangelt, so lässt sich das Buch nur schwer einer konventionellen Memoirenliteratur zuordnen. Es sind – wie im Untertitel auch so bezeichnet – „Erinnerungspassagen“ mit vielen Lücken, „Rissen im Film, Pausen. Ist das schlimm?“ Die Rhetorik dieser Frage beantwortet sich durch diese biografischen Skizzen, manchmal sind es sogar kleine farbige Gemälde, von selbst. Wer durch ein Buch erfahren möchte, was das Besondere der geschichtlichen Brüche in Europa gewesen ist, beginnend mit dem Endes des Zweiten Weltkriegs, den Erstarrungen der „Blockkonfrontation“ zwischen Ost und West, schließlich den Anfängen der Risse und Schründe in den totalitär regierten ostmitteleuropäischen Staaten, sollte die Erinnerungen der Ilma Rakusa lesen.
Dass die Autorin dafür den „Schweizer Buchpreis 2009“ erhalten hat, versöhnt einen auch etwas wieder mit einem Land, dessen Bevölkerungsmehrheit sich so schmerzhaft gegen Fremde, gegen die Farben verschiedener Kulturen abschottet. Es gibt eine „andere Schweiz“ und auch ein „anderes Europa“, dessen Lebendigkeit man in den Erinnerungspassagen von Ilma Rakusa finden kann. Mehr davon …
Carl Wilhelm Macke
Ilma Rakusa: Mehr Meer. Erinnerungspassagen.
Graz: Literaturverlag Droschl 2009. 325 Seiten. 23,00 Euro.