Einer der wichtigsten deutschsprachigen Kulturkritikers des XX. Jahrhunderts.
Einer, der das Suchen nach moralischen Orientierungen in einer Wüste von Gleichgültigkeiten nicht aufgibt. Einer, der sich seine Geistesfreiheit durch nichts und niemanden einschränken läßt.
Zwanzig Jahre lang, zwischen den fünfziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, gehörte der in Wien geborene, nach dem Anschluß Österreichs nach Belgien emigrierte und vornehmlich im deutschsprachigen Raum publizierende Jean Amèry zu den luzidesten intellektuellen Köpfen. Stilistisch war er vielleicht sogar einer der ganz großen deutschsprachigen Publizisten des XX. Jahrhunderts. Obwohl Amèry in den großen Zeitungsfeuilletons jahrelang ein hofierter Gastschreiber war, kann man ihn nun wirklich nicht zur alten Wiener Schule der luftig schreibenden und ebenso lebenden Kaffeehaus-Feuilletonisten zählen.
Amèry hat Auschwitz, Buchenwald, Bergen-Belsen erlebt und überlebt. Man hat ihn gefoltert. Auf diese Torturen kam er in seinen späteren Arbeiten immer und immer wieder zurück, ganz besonders in „Jenseits von Schuld und Sühne“. An diesen Erlebnissen hat er alles gemessen. Das gibt seinen Arbeiten immer einen so großen Ernst, eine so punktgenaue Konzentration auf das Existenzielle. Er zwang zum konzentrierten Lesen und Hören. Seine Rundfunkbeiträge bleiben bis heute Maßstäbe für jeden kulturkritischen Journalismus. Zu seinen bekanntesten Veröffentlichungen gehören seine biographische Trilogie, sein Plädoyer für „Charles Bovary Landarzt“ , sein Nachdenken „Über das Alter“ und, sehr provokativ, über den Freitod.
Irene Heidelberger-Leonard rekonstruiert die jeweiligen biographischen Hintergründe beim Entstehen der Arbeiten mit philologischer Seriösität und gleichzeitig auch mit viel stilistischem Gefühl. Amèry-Leser und Kenner erkennt man eben. Auch die nicht wenigen Unebenheiten, Widersprüche, Halb-Schatten in seiner Biographie werden von ihr immer wieder herausgestellt. Sein langes Verwirrspiel etwa mit seinem Namen (von Hans Mayer zu Jean Amèry), seine erschreckende „Kinderphobie“, seine oft so intellektuell brillant maskierte Depression, seine manchmal überzogenen Härten gegenüber anderen Intellektuellen (Primo Levi, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt).
Dass ein so skrupulöser, feiner, jedes Wort abwägender, langsam denkender und arbeitender Publizist im heutigen Kulturbetrieb ein Fremder wäre, würde Amèry vielleicht gar nicht einmal so erstaunen. Fremd war er irgendwie doch immer und überall: unter den im Nazi-Schatten lebenden Deutschen, im schweizer „Vollmilchschokoladen-Paradies“, im oft aggressiv-provinziellen „Felix Austria“ bei der verbalradikalen linken Intelligenz, im politisch grünen Ambiente, wo er immer zu viel (und zu einseitig) „Blut-und-Boden-Brummer“ wahrnahm.
Kann man aber von einem, der das absolute Grauen in personam erlebt hat, ein Grundvertrauen zur Welt erwarten?
Die Biographie von Irene Heidelberger-Leonard lesend, wird einem Seite für Seite noch einmal bewußt, wie sehr uns einer wie Jean Amèry fehlt. Einer, der, ratlos wie wir selbst, das Suchen nach moralischen Orientierungen in einer Wüste von Gleichgültigkeiten nicht aufgibt. Einer, der sich seine Geistesfreiheit durch nichts und niemanden einschränken läßt.
Carl Wilhelm Macke
Postskriptum: darf man den Verlag um ein neues Umschlagdesign bitten? Amèry als kitschige Helden-Ikone - das paßt nun wirklich nicht zusammen.
Irene Heidelberger-Leonard: Jean Amèry - Revolte in der Resignation. Biographie. Klett-Cotta-Verlag Stuttgart, 2004, 408 S. 24 Euro. ISBN: 3-608-93539-8