Schöner Fernsehen
Die Kritik über den Verfall der Fernsehkultur ist weitverbreitet und oft auch gut begründet. Iso Camartin hingegen setzt hier einen Kontrapunkt und lobt das Medium Fernsehen, dessen Möglichkeiten unterschätzt werden.
Die Medien sind schuld. Vor allem aber das Fernsehen. Der Untergang des Abendlandes – en gros und en détail. Werteverfall, schlechte Manieren, Jugendkriminalität, Korruption, Scheidungsraten, Umweltsünden, Sex & Crime rund um die Uhr. Wo zwei oder drei Menschen versammelt sind und sich über den schlechten Zustand der Welt im Allgemeinen und Besonderen unterhalten, wird nach spätestens vier, fünf Sätzen das Fernsehen als Generalschuldiger identifiziert sein.
Und dann kommt ein schweizer Schöngeist daher und plädiert für das Fernsehen als ein Medium des Belvedere, der schönen, der intelligenten, der wertevermittelnden Freizeitbeschäftigung. Ja, sieht denn dieser Mann überhaupt nicht fern? Weiß der überhaupt, wovon er spricht? Oder vertritt er etwa ganz einfach die Interessen irgendeines privaten Fernsehkanals? Weder noch – Camartin ist alles andere als ein snobistischer Verweigerer des Fernsehkonsums. Und professionell hatte er auch mehrere Jahre lang mit dem Fernsehen zu tun. Allerdings – und das relativiert sein oft etwas allzu rosig erscheinendes Plädoyer für das Medium Fernsehen etwas – argumentiert er aus der Sicht eines Fernsehmachers, der für einige Jahre einen sehr exklusiven schweizer Kulturkanal leitete. Big Brother und seine vielen medialen Verwandte kommen in des Fernsehelogen des Autors überhaupt nicht vor. Camartin geht es auch nicht um die Wertung einzelner Programme oder Kanäle. Ihm geht es nur um die Rettung des Mediums Fernsehens gegen seine populären Verächter wie seine gedankenloser Dauerkonsumenten.
Ein Fenster zur Welt
Gegen zwei verbreitete fernsehkritische Positionen versucht Camartin zu argumentieren: Das Fernsehen ist weder der Verursacher des allgemeinen Kulturverfalls noch, wie Enzensberger abschätzig meint, ohnehin nur ein ‚Nullmedium‘ und ohne jede Relevanz für das intellektuelle Bürgertum.
„Wenn Fernsehen sich ohne Wenn und Aber rechtfertigen lässt, dann, weil es die herausragende Eigenschaft hat, eigene Welt mit Fremdwelt zu konfrontieren.“
Gut und seriös gemachte Fernsehdokumentationen können einem mit sich und der Welt zufriedenen Zuschauer das Fenster zu einer Welt öffnen, die alles andere als harmonisch ist. Wer also alles sogenannte Negative und Kulturzersetzende dem Fernsehen anlastet, schlägt nur auf den Überbringer von in der Tat oft schlimmen Nachrichten und Bildern aus ‚der Welt‘ da draußen jenseits der eigenen vier Wände ein. Die Fernsehabstinenten in den feinsinnigen intellektuellen Kreisen hingegen würden die unbestreitbare überragende Bedeutung dieses Mediums in allen Gegenwartsgesellschaften ignorieren. „Wer aber durch Ridikülisierung etwas zum Verschwinden bringen will, das derart allgemeinen Zuspruch und universellen Gebrauch erfährt wie das Fernsehen, der riskiert, dass die Wut auf die falsche Einrichtung der Welt ihn selbst wirklichkeitsblind macht.“
Nach dieser Eingrenzung der eigenen Position kann sich Camartin dem widmen, was er auch schon in seinen früheren Veröffentlichungen am liebsten getan hat: nicht Kulturkritik betreiben, sondern Liebeserklärungen an eine weltoffene, alle Sinne erfassende und reizende Kultur schreiben. Wenn heute in Managementseminaren ‚Führungskompetenzen‘ vermittelt werden sollen, so wünscht sich Camartin – jedenfalls für das Management des expandierenden Kultursektors – nicht ganz ohne Augenzwinkern mehr ‚Verführungskompetenz‘. Dass er selber über diese Kompetenz reichlich verfügt, spüren die Leser auf jeder Seite.
Der große Verführer
Nichts aus der großen, alle geographischen wie zeitlichen Grenzen überschreitenden Welt der Kunst und der Kultur sperrt sich gegen eine dem Medium Fernsehen angemessene Darstellung. Verführungen zu Reisen gehörten immer schon zum Standardrepertoire des Fernsehens. Auch für Einführungen in die Geschichte der Kunst ist das Fernsehen ein ideales Medium. Es ersetzt nicht den Besuch von Museen, kann aber dazu verführen und das Wissen über einzelne Künstler wie Stilrichtungen unbegrenzt erweitern. Und selbst das Hören von Musik, Stimmen und differenzierten Geräuschen, für das der Hörfunk per definitionem das zentrale Medium darstellt, ist unverzichtbar für das Bildmedium Fernsehen.
Das Fernsehen kann, so die immer wiederkehrende These von Iso Camartin, ein ideales Medium sein, um unsere Lust auf Welt, auf Bildung und auf Nahrung für alle unsere Sinne zu stillen und immer wieder neu zu entfachen.
Wenn man sich dann aber nach der Lektüre dieses so verführerisch gut geschriebenen Buches wieder vor die Glotze hockt und durch die diversen Fernsehkanäle zappt, fragt man sich doch, welches Fernsehangebot Iso Camartin im Kopf hatte, als er dieses Plädoyer für das Fernsehen als Lebenskunst schrieb. Zu befürchten ist, dass die Macher billigster Fernsehserien und Reality-Shows, diese intelligente Verteidigung des Fernsehens als Rechtfertigung ihrer täglichen Produktion medialen Schrotts missverstehen. Das zu kritisieren und zu verurteilen ist aber etwas anderes als das Medium Fernsehen für den allgemeinen Verfall von Sitten und Anstand verantwortlich zu machen. „Die wichtigste Funktion des Fernsehens ist es, für jede Winkelbewohnerin und jeden Winkelbewohner unseres Planeten ein Fenster zur Welt zur sein, durch das man auf Fremdes und Fernliegendes blickt, um so sich selbst neu zu sehen und zu bewerten.“
Wie schön wäre es, wenn man Iso Camartin hier ohne wenn und aber zustimmen könnte. Aber nach einem an der TV-Fernbedienung verbrachten Abend verblassen schnell die Reize dieser Verführungen zum ‚Fernsehen als Lebenskunst‘…
Carl Wilhelm Macke
Iso Camartin: Belvedere. Das schöne Fernsehen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2005, Gebundene Ausgabe,156 S., 16,90 Euro, ISBN: 3-518-41688-X