Geschrieben am 26. Oktober 2013 von für Bücher, Crimemag

Jô Soares: Sherlock Holmes in Rio

sherlock_holmes_in_rio-jo_soaresHommage vom Zuckerhut

‒ Im Zuge der Buchmesse ist mit Jô Soares’s „Sherlock Holmes in Rio“ ein moderner Klassiker der brasilianischen Kriminalliteratur wieder aufgetaucht, der als Kontrapunkt zur sozialkritischen „narrativa brutalista“ stehen sollte. Sophie Sumburane hat ihn sich auf seine Haltbarkeit hin angeschaut …

Rio de Janeiro Ende des 19. Jahrhunderts. Brasiliens Belle Époque, französische Adaptionen im letzten lateinamerikanischen Kaiserreich, bis hin zur fehlenden Kanalisation und dem dazugehörigen Gestank. Des Kaisers Geliebte lässt sich ihr Geschenk, eine wertvolle Stradivari, stehlen, die „Schwanengesang“ existiert offiziell gar nicht, bietet also aus zweierlei Gründen Zündstoff. Mello Pimenta muss mit äußerster Diskretion ermitteln, den Skandal vermeidend. Gott sei Dank ist just zu dieser Zeit die französische Schauspielerin, die göttinnengleiche Sarah Bernhardt in Rio und empfiehlt ihren Freund, wir ahnen es schon: Sherlock Holmes.

Pfeife und Mütze

Ausgestattet mit den von Conan Doyle verabreichten Attributen: Pfeife, Mütze, Karojacke, versetzt Soares eine der wohl bekanntesten Figuren der Literatur ins Brasilien der Kaiserzeit. Noch bevor Dr. Watson beginnt, „Die Abenteuer des Sherlock Holmes“ niederzuschreiben, lernt der Leser das Paar in seiner Anfangsphase kennen. Schade, denn Soares verpasst die Chance, eine originelle Vorgeschichte zu entspinnen. Watson ist die meiste Zeit unabkömmlich, oder schlicht nicht da, was ihn zu einem noch unwichtigeren Gehilfen werden lässt, als es schon bei Doyle der Fall war. Wenn er dann doch mal da ist, kommt er erschreckend dümmlich daher, merkt nicht, dass er die Zeitung von gestern liest, lernt kein einziges Wort Portugiesisch, während Holmes wortgewandt als Redeführer selbst unter den Einheimischen auftritt. So stellt Soares stattdessen dem Briten ein brasilianisches Pendant an die Seite, der bodenständige Kommissar Mello Pimenta. Begeistert von den Schlüssen Holmes’, übernimmt er sogleich viele von dessen Eigenheiten, was wiederum dazu führt, dass ein als vielversprechend beginnendes Detail abflacht und sich selbst trivialisiert. Statt an den beiden so unterschiedlichen Figuren die Diversität der verschiedenen Kulturen sich aufreiben zu lassen, gleicht Soares die Charaktere einander an, Holmes zieht die brasilianische Leichtigkeit der britischen Steifheit vor, während Pimenta Holmes zu kopieren sucht.

Jô_SoaresWas ist das überhaupt?

Und überhaupt, der Leser schlingert so durch den Text, lacht hier, gruselt sich dort und fragt sich irgendwann: Ist das nun ein Krimi? Vielleicht. Der Text hangelt sich entlang an der Krimi-Peripherie, neben der gestohlenen Stradivari tauchen nun auch Mädchenleichen auf, mit abgeschnittenen Ohren und Geigen-Saiten in die Schamhaare gerollt. Die kurzen Sequenzen aus der Sicht des Mörders sind zu widerlich und detailreich, um in einer Parodie zu stehen, die Taten des Mörders zu unmotiviert, um ein Muster erkennen zu lassen. Die Holmes-Szenen dagegen sind zu parodistisch und ausführlich, um spannend zu sein. Das Geschehen ermittelt sich nicht voran, viel mehr überspitzt Soares mit Vorliebe Holmes’ Eigenheiten. Verkleidet als Pirat begleitet Holmes Pimenta zu einem Gespräch in die Irrenanstalt. Tarnung nennt der das, es führt jedoch zu der Frage des leitenden Arztes, warum der Ermittler ihm einen Patienten mitbringt. Diese liebevollen Augenzwinkereien machen schließlich auch den Charme des Buches aus – der versierte Doyle-Leser wird an vielen Stellen herzhaft lachen können. Die ins Absurde getriebenen Schlussfolgerungen des Detektives sind so falsch wie genial, Holmes selbst bekommt dagegen nie mit, wie daneben er liegt. Die Brasilianer sind schließlich höflich und Holmes vom Cannabis statt des Tabaks in seiner Pfeife benebelt genug, um sein unerschütterliches Selbstbewusstsein zu wahren.

Jô Soares, der als Dramaturg, Regisseur, Schauspieler, Fernsehmoderator und eben auch Autor ein versierter Kenner der Kulturszene Brasiliens ist, schiebt zwischen dieses Treiben unter Schwätzern und Blendern, Genies und Spöttern immer wieder humorvolle Dialogszenen, welche die eigentliche Treibkraft des Romans ausmachen. Die Ermittlungen geraten zur Nebensache, die Sequenzen aus der Sicht des Mörders brechen diese bisweilen albernen Pointen aufs Grausamste. Die brasilianischen Künstler und Möchtegerns, mit denen Holmes verkehrt, stellen die hitzige Intellektualität eines Landes pointiert und kritisch dar. Soares skizziert Brasilien als ein Land, das auf der Suche nach einer eigenen Identität geistvolle Kapriolen schlägt.

Dieser bereits 1995 in Brasilien und zwei Jahre später in Deutschland veröffentlichte Roman, ist Soares’ Erstling und nicht zu Unrecht ein beachtlicher Erfolg geworden. Die Neuauflage im Insel-Verlag, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, ist mit Sicherheit kein Zufall, wollte man doch auch einen Gastland-Titel im Programm haben.

Verpasste Chancen

Leider verpasst der Autor viele Chancen, ein tiefergehendes Profil seiner Figuren zu zeichnen, bleibt dem Leser nicht existenziell wichtige, aber doch wünschenswerte Details schuldig und kratzt schließlich selbst bei den psychologisierenden Abschnitten des Mörders lediglich an der Oberfläche eines menschlichen Abgrunds. Dabei ist die Idee, die hinter dem Mädchenmordenden „Serial Killer“ steht eine originelle. Nicht nur, dass sie Holmes die Vorlage für den aus dem Hut gezauberten Begriff „Serial Killer“ liefert, sie ist gleichzeitig die Vorgeschichte, eines der bekanntesten britischen Kriminalfälle der Geschichte. Also doch ein Krimi?

Sophie Sumburane

Jô Soares: Sherlock Holmes in Rio (O Xangô de Baker Street. 1995). Roman. Deutsch von Karin von Schweder-Schreiner. Berlin: Insel 2013. 313 Seiten. 9,90 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor. Mehr zu Sophie Sumburane.

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