Geschrieben am 24. April 2010 von für Bücher, Crimemag

James Sallis: Dunkle Schuld

Rückbesinnung im kleinstädtischen Amerika

Die ersten drei Romane von James Sallis erschienen in den Jahren 1999 und 2000 in der schnell wieder eingestellten DuMont-noir-Reihe. Dann verschwand der Autor für Jahre vom deutschen Buchmarkt, bis ihm mit seinem Roman Driver (OT: Drive) 2007 ein großes Comeback gelang, das ihm den Deutschen Krimipreis 2008 einbrachte. Jetzt ist nach Deine Augen hat der Tod (OT: Death will have your eyes) auch Dunkle Schuld (OT: Cypress Grove) erschienen, mit dem der Autor seine Vielseitigkeit demonstriert. Warum James Sallis als eine der eigenwilligsten Stimmen der amerikanischen Kriminalliteratur gilt, erläutert uns CLAUS KERKHOFF.

Wer Dunkle Schuld als einen normalen „Krimi“ lesen möchte, in dem es um Entdeckung eines Verbrechens – Ermittlung – Ergreifung des Täters geht, wird von dem neuen Roman von James Sallis enttäuscht sein. Turner (ohne Vornamen) ist ein ehemaliger Cop, der sich in eine einsam gelegene Hütte irgendwo im Hinterland von Memphis zurückgezogen hat, um alleine zu sein. Aber ein Mann wurde ermordet und der örtliche Sheriff, Lonnie Bates, in dessen County es nur die kleinen Allerweltsverbrechen gibt, hat noch nie in einem Mordfall ermittelt. Er bittet Turner, ehemaliger Detective der Mordkommission, um Hilfe. Und mit einem Male steckt Turner wieder mittendrin im Schlamassel.

Der Tote ist ein Obdachloser, der dem Bürgermeister die Post geklaut hat. Er wurde gepfählt und als eine gekreuzigte Vogelscheuche aufgebaut. Turner und Sheriff Bates finden heraus, dass der junge Mann Carl Hazelwood war, geistig verwirrt und immer wieder für einige Wochen von Zuhause entflohen. Er hatte ein besonderes Interesse für einen Kultfilm, dessen Regisseur vor vielen Jahren spurlos verschwunden war, und den er zu finden hoffte. Als Turner den Film ansieht, ahnt er, dass er den Mörder finden kann, wenn er den Regisseur aufspürt.

Turner ist ein vom Leben desillusionierter Protagonist. Seine Persönlichkeit steht im Fokus des Romans, und der eigentliche Kriminalfall ist die Frage, was ihn aus der Bahn geworfen hat.

Dennoch liegt in der Konzentration auf die Biografie Turners die Schwäche des Romans, weil der Kriminalfall der Gegenwart fast vollständig hinter die Spurensuche in der Vergangenheit zurücktritt. Wer sich aber auf die Figur Turner einlässt, wird entschädigt durch eine faszinierende, beeindruckende und spannende Biografie. Dabei resultiert die Spannung weniger aus einer vordergründig spannenden, actiongeladenen Handlung, sondern aus den vielen Episoden eines Mosaiks, das sich nach und nach zum Leben Turners zusammenfügt.

Das Leben – ein Mosaik

James Sallis ist ein großartiger Erzähler. Mit großer Sensibilität beschreibt er, wie das Leben als Soldat (das war Turner früher) und Polizist, die Erfahrungen von Gewalt, Leid und Tod das Individuum Turner deformieren. Sallis erzählt seine Geschichten eher unterkühlt und distanziert. Indem er Gefühligkeit und vordergründige Emotionalität meidet, steigert er die Wirkung enorm. Trotz aller Virtuosität ist Sallis Sprache äußerst hart, schließlich beschreibt er damit bis an die Schmerzgrenze eine nicht weniger harte Realität.

Als Stilmittel verwendet Sallis, seines Zeichens auch Jazzliebhaber und Musikkritiker, die eine Art Analogon zur Paraphrase – in der Musik das freie Umspielen, Ausschmücken oder das Fantasieren über ein Thema. Sallis Thema heißt Empathie. Turner fühlt mit den Menschen, die ihm nahe stehen. So sehr, dass er sich für deren Schicksal verantwortlich macht und zum Mörder wird. Er ist unfähig, sich zu distanzieren und zu akzeptieren, dass sich das Schicksal nicht kontrollieren lässt.

„Instrumente sollten gespielt werden. Genauso wie Leben gelebt werden sollten.“ (Seite 300)

„Leben, hat mal jemand gesagt, ist das, was passiert, während wir darauf warten, dass andere Dinge passieren, die nie eintreten.“ (Seite 13)

„Hier oben ist man nie weit von der Erkenntnis entfernt, dass die Zeit nur eine Illusion ist, eine Lüge.“ (Seite 10)

Noir

Dunkle Schuld ist eher ein Roman noir, denn ein Page-Turner, den man einfach wegknabbern kann. Die Lektüre fordert Konzentration, Reflexion und Auseinandersetzung.

Sallis beschreibt die Welt als Hölle, in der allein die Abwesenheit von Unglück, Tod, Schmerz und Leiden fast schon Glück bedeutet. Diese sonst dunkle, fast existenzialistische Hauptstory wird kontrastiert durch eine Liebesgeschichte. Während seiner Ermittlungen lernt Turner die Anwältin Valerie ‚Val‘ Björn kennen und Sallis erzählt das langsame Erwachen und Wiederentdecken von Zuneigung und Liebe mit großer Zurückhaltung und schenkt damit seiner Noir-Welt ein bisschen Hoffnung.

Aber wie lange wird dieses zarte Pflänzlein gedeihen?

Claus Kerkhoff

James Sallis: Dunkle Schuld (Cypress Grove, 2003). Roman.
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bürger.
München: Heyne 2009. 304 Seiten. 8,95 Euro.

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