Geschrieben am 17. April 2010 von für Bücher, Crimemag

James Thompson: Eis-Engel

Finnland, Suizidland mit Serialkiller

Das könnte schiefgehen. Ein nordischer Thriller von einem amerikanischen Autor. Ist die Nordland-Welle schon nach USA geschwappt und wollen die Amis an der Konjunktur teilhaben? Joachim Feldmann hat das Buch im Zuge seiner Schleppnetzrecherche im Meer der Krimi-Produktion gefunden und gelesen. Und ist angenehm überrascht …

Serienmord ist in Skandinavien ein ausgesprochen selten auftretendes Phänomen. In Finnland ist diese im internationalen Thriller so beliebte Spielart des Verbrechens praktisch unbekannt. Doch daraus zu schließen, man hätte es mit einer friedfertigen Gemeinschaft zu tun, wäre ausgesprochen voreilig. Die Mordrate des mückenreichen Landes im hohen Norden ist ungefähr so hoch wie die einer durchschnittlichen amerikanischen Großstadt. Allerdings finden die Gewaltverbrechen, nicht selten im Zustand der Volltrunkenheit, vor allem im Familienkreis oder unter guten Bekannten statt. Dass Finnland zudem fast in jedem Jahr die weltweite Suizidstatistik anführt, komplettiert das düstere Bild einer Gesellschaft, die für Ausländer ebenso schwer zu begreifen sein dürfte wie die Grammatik der Landessprache.

Dieser Eindruck entsteht zumindest bei der Lektüre von Eis-Engel, einem düsteren Thriller des amerikanischen Schriftstellers James Thompson, der seit vielen Jahren gemeinsam mit seiner finnischen Ehefrau in deren Heimatland lebt.

Ellroy am Polarkreis?

In einem Skiort nahe dem Polarkreis wird die grausam zugerichtete Leiche einer Somalierin gefunden. Es handelt sich um die Tochter von politischen Flüchtlingen, die eine bescheidene Karriere als Schauspielerin gemacht hat. Ihren aufwendigen Lebensstil konnte sie offenbar nur finanzieren, indem sie lukrative Männerbekanntschaften pflegte. Also weiß Kari Vaara von der örtlichen Polizei auch schnell, wo er suchen muss. Rasch hat der kluge Kriminalist einen Verdächtigen zur Hand, bei dem es sich aber dummerweise um den Lebensgefährten seiner Ex-Frau handelt. Vor dreizehn Jahren hat sie ihn wegen dieses Mannes verlassen. Selbst wenn er es wollte, könnte sich Vaara nun nicht wegen Befangenheit aus den Ermittlungen zurückziehen. Da Weihnachten vor der Tür steht, ist die kleine Polizeistation nur halb besetzt. Die Konfrontation mit dem ausgesprochen widerwärtigen Verdächtigen verläuft entsprechend unerfreuliche.

Doch nur kurze Zeit später taucht ein weiterer möglicher Täter, ebenfalls nicht unbedingt ein Sympathieträger, auf. Und an der Leiche findet man sogar DNA-Spuren eines dritten Mannes. Außerdem zeigen sich Parallelen zu dem berüchtigten Fall der „Schwarzen Dahlie“, ein aufsehenerregendes Verbrechen aus den Vierzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, der sich durch den gleichnamigen Roman James Ellroys in die Kriminalliteratur eingeschrieben hat. Es scheint, als ob der Täter den nie aufgeklärten Mord an Elizabeth Short nachstellen wollte.

Kalt und dunkel …

Kari Vaara, der eigentlich mit seiner amerikanischen Frau Kate, die Zwillinge erwartet, ein angenehmes Leben führen könnte, verstrickt sich immer tiefer in den Fall. Die Stimmung in dem kleinen Ort ist hoch gespannt, kein Wunder, denn die dauernde Dunkelheit des Polarwinters geht den Menschen an die Nerven. Es kommt zu weiteren Gewalttaten, die eine rasche Aufklärung des Verbrechens unwahrscheinlich werden lassen, während der verzweifelt agierende Ermittler nicht nur unter dem Druck des Polizeichefs im fernen Helsinki steht, sondern auch vom Vater der Ermordeten, einem strengen Muslim, in unangenehmen Telefonaten regelmäßig an seine Aufgabe erinnert wird. Fast bis zum Ende des Romans befindet er sich auf mehr oder weniger falschen Fährten, bis dann die tatsächliche Auflösung ihn ebenso schockiert wie den Leser.

Beinahe bösartig

Eis-Engel ist ein beinahe bösartig zu nennender Kriminalroman, der die menschliche Existenz in einem, und das könnte man angesichts der geografischen Lage des Handlungsortes fast wörtlich nehmen, denkbar schlechten Licht zeigt. Dass Vaaras amerikanische Gattin manchmal einfach weg will aus dieser finsteren Gegend, ist gut zu verstehen. Denn auch die Weihnachtsidylle, mit der James Thompson das Buch enden lässt, wirkt eher bedrohlich als überzeugend, wenn Vaara in demselben erschreckend sachlichen Ton, in dem er seine Mordgeschichte erzählt hat, konstatiert: „Aber es gibt andere Dinge. Ich blicke mich um und sehe alles, wofür ich dankbar sein muss. Ich bin von meiner Familie umgeben. Meine Frau liebt mich und hält mich in den Armen. Unsere Kinder wachsen in ihr heran.“

James Thompson hat in Finnland bereits mit Erfolg drei Kriminalromane veröffentlicht. Mit Eis-Engel scheint eine internationale Karriere vorgezeichnet. Inzwischen ist das Buch auch in den USA erschienen, und die deutsche Ausgabe, von der man gerne wüsste, aus welcher Sprache sie übersetzt ist, hat der Verlag mit einem aufdringlichen gelben „Bestseller“-Aufkleber verunziert. Der zweite Fall für Inspektor Kari Vaara soll im nächsten Jahr erscheinen. Man darf gespannt sein.

Joachim Feldmann

James Thompson: Eis-Engel (Lumienkelit, 2009). Thriller.
Deutsch von Thomas Merk.
Reinbek bei Hamburg: rororo 2010. 320 Seiten. 9,95 Euro.

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