Katastrophe Mensch
Jean-Christophe Rufin bekämpft vehement den Ökoterrorismus. Seine Helden retten die Welt – und er ruiniert dabei das Thrillergenre. Von Jörg von Bilavsky
Die humanitäre Botschaft in Ehren. Aber muss man sie unbedingt in einen Ökothriller verpacken? Als engagierter Entwicklungshelfer und mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Literat muss man das wohl. Doch wer wie Jean-Christophe Rufin seine Leser „unterhaltsam“ und „spannend“ über seine ehrenwerte Sache aufklären will, der sollte sie nicht mit einem symbolisch und philosophisch überfrachteten Plot und schon gar nicht mit Helden und Schurken belästigen, die schwer an Eindimensionalität leiden. Von der mal ins Pathetische, mal ins Banale abgleitenden Sprache ganz zu schweigen, die in Sätzen kulminieren wie: „Jetzt hatten beide nur noch einen Wunsch: beieinander zu sein, alles miteinander zu teilen.“ Aber eins nach dem anderen.
Mensch und Natur, schlimm
Um auf den tatsächlichen oder denkbaren Ökoterrorismus aufmerksam zu machen, reicht es eben nicht, sich möglichst radikale Motive auszudenken. Bei Michael Chrichton waren es rücksichtslose Umweltaktivisten, die Tsunamis auslösten und Eisberge sprengten, um die Welt auf ihren Untergang aufmerksam zu machen. Bei Rufin haben sie nicht mehr die Wälder, Meere und Tiere, sondern die Dritte Welt im Blick. Sie gilt es im Interesse eines „natürlichen“ Gleichgewichts mit „natürlichen“ Mitteln zu neutralisieren. Damit Mensch und Natur – wie in uralten Zeiten – wieder miteinander harmonieren können. Frei nach Rufins Landsmann Jean-Jacques Rousseau „Zurück zur Natur“. Allerdings endgültig auf Kosten der Armen und zugunsten der vernünftigen Reichen.
Solch eine perfide Umweltphilosophie kann einen Menschenfreund wie Rufin und sein literarisches Alter Ego Paul natürlich nicht kalt lassen. Und dass der französischstämmige Amerikaner Paul Matisse Arzt und Spion aus Berufung ist, kann auch kein Zufall sein. Zufall hingegen ist, dass sich der selbstlose Mediziner von seinem ehemaligen CIA-Chef kurzfristig wieder als Spion anheuern lässt, diesmal aber in dessen privater Geheimdienstagentur. Doch was tut man nicht alles, um die eigene, unterfinanzierte Klinik und das Leben der Unterprivilegierten zu retten. Genauso schnell wie er den Auftrag annimmt, erwacht natürlich auch wieder sein Spionagefieber, von dem er sich doch zehn Jahre lang geheilt glaubte. Und es entzündet sich an einer mysteriösen Tierrettungsaktion.
100 Stunden können eine Ewigkeit sein, 540 Seiten aber auch
Freilich entpuppt sich der Anschlag auf ein polnisches Forschungslabor dank des unerschöpflichen Wissensdursts von Paul und seines Wagemuts natürlich als Beginn einer viel größer angelegten Terroraktion, in die nicht nur eine vollkommen durchgeknallte Französin, sondern auch die obligatorisch finanzkräftigen Hintermänner und ein eiskalt-idealistischer Bösewicht verwickelt sind. Ihnen kommen Paul und seine beinah ebenso perfekt aussehende wie perfekt agierende Spionagefreundin Kerry nach investigativen und illegalen Recherchen bei ehrgeizigen Umweltorganisationen, emeritierten Philosophie-Professoren und eifrigen Mikrobiologen langsam, aber sicher auf die Spur.
Doch nichts ist ermüdender, als ihnen währenddessen dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig bewundern und anschmachten, ihren Kollegen an Intelligenz, Raffinesse und Mut haushoch überlegen sind, am Ende nahezu auf eigene Faust die Täter zur Strecke bringen und Millionen von Menschenleben retten. Mehr Heldentum und Schwulst geht nimmer. Aber auch nicht mehr an gut gemeinter Aufklärung in punkto verirrtem Ökobewusstsein. Was bei dieser klischeehaften Story auf der Strecke bleibt, ist am Ende nicht nur Rufins humane Botschaft. Sondern auch der Thriller als Genre, dem er mit seiner Schwarz-Weiß-Dramaturgie, seinen pseudo-poetischen Landschafts- und Beziehungsbeschreibungen keine neue literarische Note verleiht. Von dem schriftstellerischen Können des Autors ist hier nicht viel zu spüren.
So kritisch man Michael Crichtons Romane auch beurteilen mag, Rufin hat ihn mit seinem Thriller bestimmt nicht „in die Ära der Dinosaurier“ zurückgeschickt, wie der „Figaro“ in patriotischem Überschwang behauptet hat. In der Zeichnung ihrer oberflächlichen Figuren und dem Auswälzen ihrer überstrapazierten Stoffe stehen sich die beiden nämlich in nichts nach. Nur dass der hollywood-geschulte Amerikaner es wenigstens noch versteht, den Leser mit Action und Spannung bei der Stange zu halten. Mit einem humanitären Sendungsbewusstsein und einem antihumanitären Schreckenszenario à la Rufin gelingt das jedenfalls nicht.
Jörg von Bilavsky
Jean-Christophe Rufin: 100 Stunden (Le Parfum d’Adam, 2007). Deutsch von Brigitte Große und Claudia Steinitz. Fischer 2008. 560 Seiten. 19,90 Euro.