Streunende Hunde
– Jean Rolin treibt sich auf dem Globus herum. Von Wolfram Schütte.
Bislang war der französische Reportagejournalist & Erzähler Jean Rolin nur durch seine Streifzüge über den „Boulevard Ney“ bei uns bekannt. Nicht weniger kurios als seine eigenwillige Evokation sowohl dieser Straße, ihres Umfelds & ihrer Bewohner in Paris als ihres Namensgebers aus napoleonischen Zeiten, ist nun auch das zweite auf Deutsch vorliegende Buch des 1949 geborenen Ex-Maoisten.
Allein schon sein deutscher Titel irritiert einen: „Einen toten Hund ihm nach“. Im Französischen klingt er schlüssiger: „Un chien mort après lui“. Dabei stammt das zum Titel avancierte Satzfragment aus den letzten Worten des grandiosen Säufer-Romans „Unter dem Vulkan“ von dem britischen Autor Malcolm Lowry: „Jemand warf einen toten Hund ihm nach in die Schlucht“. „Ihm“: das ist der Körper des eben erschossenen britischen Ex-Konsuls in Mexiko, den seine Mörder in eine Schlucht werfen.
Buch & Autor haben mit Jean Rolins „Reportage von den Rändern der Welt“ nichts zu tun – wie auch seine Reportagen „nur“ an den Rändern der globalen Gesellschaften situiert sind: z.B. auf Müllhalden oder Brachgelände in Moskau, Kairo, Valparaiso, Port-au-Prince oder Mexico-City. Vielleicht hat sein offensichtlich mehrfacher Besuch der mexikanischen Hauptstadt den literarisch versierten Autor zu dieser etwas seltsamen Reminiszenz an Lowrys Mexico-Roman verführt. Allerdings verwundert es mich, dass Rolin, der über die existenzielle Nähe von Elend, Armut & streunenden Hunden in Mexico-Stadt handelt, nicht die dafür paradigmatische Einstellung aus Luis Bunuels dort spielenden „Los Olvidados“ zitiert. In einer surrealistischen Montage & Doppelbelichtung hetzt ein streunender Hund durch den Todestraum des eben von Kindern ermordeten Krüppels.
Dafür erinnert der französische Weltreisende Rolin, der in den seltsamen Berichten, die er u.a. aus Sansibar oder Australien hier versammelt, an Hunde-Erwähnungen in der Bibel, der Ilias & Odyssee oder in Flauberts ägyptischem Tagebuch & referiert die Theorien über die Herkunft des Hundes als menschliches Haustier, oder er berichtet, wie man auf dem Globus in den verschiedenen Kulturen & Gesellschaften mit dem ver- oder ausgewilderten Hund, besonders wenn er in Rudeln auftritt, umgeht.
Exentrisches Thema, befremdliche Form
So wissenswert & interessant Jean Rolins an abgelegensten Orten erlebte oder anderweitig gesammelte Erkenntnisse über streunende Hunde sind, die Reportagen besitzen eine befremdliche Form, die dem journalistisch-literarischen Genre nicht entspricht. Weder erfährt man meistens, warum der Autor sich in dieser Weltgegend aufhält & was sein Ziel & Zweck dort ist, noch haben die Reportagen einen für den Leser nachvollziehbaren erzählerischen Aufbau.
Rolin liebt es dagegen, en détail in medias res zu springen, will sagen: meistens weiß man mit Beginn der einzelnen Reportage nicht, wo man sich auf dem Globus befindet. Das wird erst recht nicht vorstellbarer, wenn der Autor – z.B. in Mexikos Hauptstadt – genau die Straßennamen zitiert, auf denen er seine Beobachtungen macht. Dabei sind solche topografischen Details für den (Nach-) Leser ebenso überflüssig wie Rolins erzählerische Geheimnistuerei über seinen jeweiligen Aufenthaltsort zu Beginn seiner Reportagen.
Beides bringt Jean Rolins journalistischem Umgang mit dem literarischen Genre, das er in seinem „Boulevard Ney“ so brillant beherrschte, diesmal keinen erkennbaren Mehrwert oder ein zusätzliches erzählerisches Raffinement. Auch von dem angeblichen „großen Stilisten der französischen Literatur“, den der Klappentext rühmt, ist in der Übersetzung Holger Focks & Sabine Müllers nichts geblieben. So spräche einzig das exzentrische Thema, seine unterschiedlichen Aspekte & auch das eine oder andere Stück der Recherchen des Autors an den ausgefallendsten Orten des Globus für das mögliche Interesse an dem Buch.
Wolfram Schütte
Jean Rolin: Einen toten Hund ihm nach. Reportage von den Rändern der Welt. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Berlin Verlag, Berlin 2012. 254 Seiten. 24,99 Euro. Foto: Wikipedia, Creative Commons 3.0, Autor: Georges Seguin, Quelle.