Geschrieben am 9. Mai 2005 von für Bücher, Litmag

Jeffrey Eugenides: Air Mail

Lebenslügen – unaufdringlich und ironisch

Vor zwei Jahren hat Jeffrey Eugenides mit „Middlesex“ eine Familiensaga vorgelegt, die mit dem renommierten Pultizer-Preis belohnt wurde. Dass der erfolgreiche Romancier auch die Kunst der Short Story beherrscht, beweist er mit seinem Erzählungsband „Air Mail“.

Was hat ein an der Ruhr erkrankter Aussteiger in Indien mit einer erfolgreichen TV-Produzentin in New York gemein? Und die wiederum mit einem orientierungslosen Twen, der seine Eltern in ihrem Altersdomizil in Florida besucht? Antworten geben die drei zwischen 1997 und 1999 erschienenen Erzählungen von Jeffrey Eugenides, der darin die Lebenslügen und Überlebensstrategien der amerikanischen Durchschnittsseele beleuchtet. Der Müßiggänger mit Erlösungsphantasien, die 40-jährige Karrierefrau mit neurotischem Kinderwunsch und der lethargische Erbe einer maroden Hotelanlage verkörpern für ihn die „angenehme Absurdität Amerikas“.

Erleuchtung…

Mitchell aus „Air Mail“ scheint die entspannteste Figur in diesem Erzählungsband zu sein. Er treibt ein esoterisches Spiel mit seiner Krankheit und schockiert seine Angehörigen mit spirituellen Erfahrungen. Von seinem frei gewählten Weg ins Nirwana können ihn die Eltern in der Ferne wie die ihn begleitenden Freunde nicht mehr abhalten. Während sich die anderen Aussteiger in Südostasien nur eine weiteren oberflächlichen Kick erwarten, sind seine Wünsche existenzieller Natur, die schließlich auf sanfte Weise erfüllt werden. Überraschend kommt dieses Ende allerdings nicht, da Eugenides diesen der Agonie verfallenden Charakter von Anfang an auf Untergang programmiert hat. Die Grenzen zwischen realer und esoterischer Welt verfließen unspektakulär, aber folgerichtig.

…Eifersucht…

Überraschender und mit einer gehörigen Portion Ironie hat er seine Erzählung „Bratenspritze“ komponiert. Wally Mars, ein kleinwüchsiger Geschäftsmann, muss mit ansehen, wie seine frühere Geliebte, die TV-Frau Tomasina, ihren späten Kinderwunsch mit dem Sperma eines fremden, wesentlich attraktiveren Manns erfüllen möchte. Ohne emotionale Verpflichtungen dabei einzugehen, wie es sich für eine emanzipierte Frau gehört. Zeit und Grund genug für Wally, das Leben seiner Freundin und ihre gemeinsame Beziehung noch einmal Revue passieren zu lassen. Mit ungeahnten Folgewirkungen. Mit leichter Hand zeichnet Eugenides in dieser Satire die Oberflächenstrukturen der New Yorker Yuppie-Generation nach und versetzt ihr mit der „Bratenspritze“ einen unter die Haut gehenden Stich.

… und Ehrgeiz

Mehr Mitgefühl zeigt der Familienvater Eugenides mit dem Sohn einst wohlhabender Eltern, die ihr ganzes Vermögen in eine heruntergekommene Hotelanlage gesteckt haben. Mit der Sanierung des Feriendomizils versucht der immer gebrechlichere Vater, seinem Leben einen letzten Sinn zu geben. Sein Sohn ist stiller, manchmal auch mitfühlender Beobachter dieser Bemühungen. Aber man ahnt es schon. Auch der unbedarfte Sprössling wird wahrscheinlich einmal ähnlichen Trugbildern zum Opfer fallen wie sein Vater.

Eugenides klagt weder die verzweifelten Lebenspläne seiner Figuren noch die Umstände an, die diese begünstigt oder vielleicht sogar verursacht haben. Sein Interesse gilt den existenziellen Empfindungen seiner Figuren am Scheitelpunkt ihrer Biographie. Ihr Bezugspunkt ist wie in „Middlesex“ die Familie, die gleichermaßen anzieht wie abstößt. Die unterschwellige Tragik in diesen Lebensgeschichten ist genauso evident wie natürlich. „Es gibt kein wahres Leben im falschen“, hat der Sozialphilosoph Adorno der bürgerlichen Gesellschaft einmal attestiert. Eugenides hat diesen Gegensatz in seinen Erzählungen unaufdringlich und ironisch aufzulösen versucht.

Jörg von Bilavsky

Jeffrey Eugenides: Air Mail. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter und Eike Schönfeld. Rowohlt Taschenbuch Verlag 2005. Paperback. 128 Seiten. 7,90 Euro. ISBN 3-499-24079-3