Geschrieben am 28. September 2013 von für Bücher, Crimemag

Jewgeni Lukin: Unter dem Räubermond

Jewgeni Lukin_Unter dem RäubermondIn die Wüste geschickt

– Jewgeni Lukins russischer Kult-Sci-Fi-Roman „Unter dem Räubermond“ bleibt aus westlicher Sicht irgendwie unbefriedigend, findet Elly Bösl.

Der junge Nomade Ar-Scharlachi hat ein Problem: Aufgrund einer Verwechslung wird er für den berüchtigten Räuberhauptmann Scharlach gehalten, und damit ist sein beschauliches Leben als Nomade, Herumtreiber und Säufer vorbei. Während seiner ersten Nacht im Gefängnis lernt er die ebenso schöne wie gefährliche Aliyat kennen, die die Geliebte des Räuberhauptmannes war. Sie alleine könnte den Irrtum aufklären, doch sie schweigt, denn statt des Galgens erwartet Ar-Scharlachi eine Reise in die Hauptstadt zum Fürsten Ulquar.

Aus Angst vor dem Tod befiehlt der wahnsinnige Herrscher dem vermeintlichen Räuberhauptmann, einen Zugang zum Meer zu finden – keine leichte Aufgabe für einen Wüstenbewohner. Mit zwei Kriegsschiffen macht sich Ar-Scharlachi auf den Weg, doch natürlich hat er keine Ahnung, wo das Meer liegt. Bereits wenige Tage nach Beginn der Exkursion wird gemeutert, durch einen Trick gelingt es Ar-Scharlachi, unterstützt von Aliyat, eines der Schiffe in seine Gewalt zu bringen, und fortan zieht er wie der Räuber selbst durch das Land. Erfolgreiche Überfälle auf Städte untermauern den Ruhm der Räuber, die eigentlich gar keine sind – wäre da nicht der verrückte Herrscher und seine Gelüste nach Meerwasser sowie der echte Scharlach, der dem Treiben nicht ohne Weiteres zusehen will …

Was an „Unter dem Räubermond“ sofort überzeugt ist das Setting, die Wüste, und das, was Lukin daraus macht. Die Wüstenschiffe sind hier durchaus wörtlich zu verstehen: Riesige Schiffe auf Rädern, geschoben von sogenannten Schiffsläufern, bewegen sich durch eine unwirklich anmutende Landschaft, die von der sengenden Sonne beherrscht wird. Es gibt verfeindete Parteien, die Verschleierten, zu denen auch der Protagonist gehört, und die Nacktfressen, die ihr Gesicht nicht verhüllen. Letztere gewannen vor einiger Zeit eine Art Bürgerkrieg und sind nun an der Macht, junge Adelige wie Ar-Scharlachi sind damit gezwungen, ihr Leben als Vagabunden, Schiffsläufer und Ähnliches zu fristen und können von Rebellion nur träumen. Es gibt Tempel für heilige Kamele, doch diese Tiere sind ausgestorben. Legenden unterfüttern die Wüsten-Gesellschaft, die über verschiedene Oasen und Wadis verteilt lebt, einander nicht immer wohlgesonnen ist und zwischen denen Ar-Scharlachi und Aliyat, Partner wider Willen, sich bewegen.

Wie auf der Erde: Es geht immer nur um’s Öl

Es gibt auch einen Bereich in der Wüste, der tabu ist: Das Land der nickenden Hämmer. Natürlich wird Ar-Scharlachi im Laufe des Romans gezwungen, dort hinzufahren, und die nickenden Hämmer entpuppen sich als Ölfelder, beherrscht von einer technisch wesentlich weiter entwickelten Zivilisation, ausgestattet mit allen Schikanen wie Laserpistolen und Funkgeräte, die die Einheimischen nur Staunen machen. Auch die Fremden haben Feinde, die mit Flugzeugen anrücken und die Ölfelder bombardieren, doch wer sie sind und worum es in dem Konflikt geht, bleibt verborgen.

Vieles an Lukins Roman lässt den Leser einigermaßen ratlos zurück: Ar-Scharlachi stolpert von einer komischen Situation in die Nächste, die Einzige, die ein bisschen Ahnung von dem hat, was sie da tun, ist Aliyat, die ihre ganz eigenen Probleme mitbringt, und die oben geschilderte Episode auf den Ölfeldern wirft Fragen auf, die nie wirklich beantwortet werden. Was will uns der Autor damit sagen?

Man könnte vermuten, wie Hartmut Kaspar es im „Science Fiction Jahr 2013“ (((Link))) tut, dass es sich bei „Unter dem Räubermond“ um eine typisch (sowjet-)russische Geschichte handelt, bei der man zwischen den Zeilen lesen muss. Dann handelt sie „von dem Aufstand einfacher Menschen gegen wohl organisierte Staatskonzerne, die im Auftrag ihres Herrn unterwegs sind, um die Reichen noch reicher zu machen“.[1] Eine Interpretation, gegen die man nicht viel sagen kann, denn sie wird durchaus vom Roman gestützt.

Ich meine, hier geht es zudem noch um etwas anderes, nämlich um einen Archetypen aus russischen Märchen: Den Lewscha.

Russische Archetypen: Der Linkshänder

Lewscha bedeutet „Linkshänder“, und im Russischen bezeichnet man damit auch Menschen, denen einfach alles, was sie anpacken, mit Links zu gelingen scheint. Glückspilze, die durchaus etwas zu ihrem eigenen Glück beisteuern könnten, es aber nicht tun – klappt doch eh alles von alleine. Neben dem berühmten Märchen von Nikolaj Leskov mit dem Titel „Der Linkshänder – Die Geschichte vom Tulaer schielenden Linkshänder und vom stählernen Floh“ aus dem Jahr 1881 existiert die Figur des Lewscha in vielen russischen Volksmärchen, etwa dem vom sprechenden Zauberlachs, der seinem Retter, dem unglaublich faulen Iwan, alle Wünsche erfüllt, sagt er nur den Zauberspruch auf.

Da Iwan wenig Ambitionen hat, sich von seinem Bett über dem warmen Ofen zu entfernen, vollbringt er wahre Wunder mit Hilfe des Lachses, die ihm eine gewisse Berühmtheit einbringen und damit die Aufmerksamkeit des Zaren. Mitsamt Bett und Ofen am Zarenpalast angekommen, verliebt sich Iwan natürlich in die Zarentochter, wird dafür vom Zar in einem Fass auf dem Meeresgrund versenkt, woraus er sich allerdings mühelos befreien kann, um dann mit seiner neuen Braut heimzukehren in sein Dorf – und sich wieder dem Nichtstun und Alkoholkonsum zu widmen.

Und ein solcher Lewscha ist Ar-Scharlachi aus Lukins Roman auch, wenn auch einer ohne Zauberlachs. Ohne sein Zutun – und das ist wörtlich zu nehmen, denn meistens ist Ar-Scharlachi, wenns brenzlig wird, gelähmt oder betrunken oder beides – gelingt ihm scheinbar alles mühelos. Er überfällt Städte und kommt ungeschoren davon, er entkommt dem Land der nickenden Hämmer, er schafft es immer irgendwie, sich den Verfolgern zu entziehen und dabei auch noch Gewinn zu machen. Und oft muss er dafür gar nichts tun, denn sein Zauberlachs ist Aliyat, die ihm, zumindest was Raubzüge und Schiffsführung betrifft, weit überlegen ist, aber das Kommando als Frau nicht direkt übernehmen kann. Hier ist ein Stück weit auch eine Emanzipationsgeschichte verborgen, denn Ar-Scharlachi, dem ihre Fähigkeiten natürlich nicht verborgen sind, überträgt ihr mehr oder weniger das Kommando über das Schiff – ein unerhörter Umstand, der immer wieder für Zoff mit den Matrosen sorgt.

Nicht, dass „Unter dem Räubermond“ ein Märchen sein möchte, es handelt sich schon um einen waschechten SF-Roman. Doch einen mit Augenzwinkern und einem Anti-Helden, der vielen Russen (und wahrscheinlich auch dem ein oder anderen Westler) sehr sympathisch sein wird. Ich habe durchaus auch etwas für den Lewscha übrig, allerdings mit dem für meinen Geschmack zu passiv geratenen Ar-Scharlachi so meine liebe Not über knapp 500 Seiten. Wirklich fantastisch sind, wie gesagt, die Wüstenbilder und die farbenprächtigen, exotischen Orte, die Lukin in seine Wüste hineinsetzt. Wer sich auf den Lewscha Ar-Scharlachi und diese Art des Heldentums einlässt, wird sicherlich nicht enttäuscht werden. Wer allerdings einen klassischen Sci-Fi-Helden erwartet, sollte hiervon die Finger lassen!

Elly Bösl

Jewgeni Lukin: Unter dem Räubermond (Разбойнчья злая луна, 1997). Roman. Deutsch von Erik Simon. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2013. 495 Seiten. 8,99 Euro. Mehr zu Elly Bösl: hier.

[1] Hartmut Kaspar: Jewgeni Lukin: Unter dem Räubermond. In: Das Science Fiction Jahr 2013. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2013. S. 405.

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