Die literarische Quadratur des Kreises?
Wolfram Schütte über Joaquim Maria Machado de Assis´ hintersinnigen Roman “Dom Casmurro”.
In Urs Widmers eben erschienener Autobiografie “Reise an den Rand des Universums” behauptet der Schweizer Autor: “Jedes Erinnern, auch das genaueste, ist ein Erfinden. Das Tatsächliche erinnern: auch daraus kann nur ein Roman werden”. Dieser Ansicht ist wohl auch schon Bentinho Santiago, der in Joaquim Maria Machado de Assis 1899 erschienenem Buch als alter Mann sich & uns seine Selberlebensbeschreibung als Roman-in-progress erzählt. Sein Titel “Dom Casmurro” ist zugleich der Spitzname des angeblichen Autobiographen, der im mehrfachen Zwiegespräch mit den Lesern diesen erklärt, dass damit nicht die lexikalische Wortbedeutung, sondern “der Eigenbrötler” des Volksmunds gemeint ist, den Ironie zum “Dom” geadelt hat.
Machado de Assis (1839/1908) ist als Autor, Kritiker & Präsident der ersten brasilianischen Akademie der Begründer der eigenständigen Literatur des flächengrößten südamerikanischen Landes. Der immer großzügige Mulatte aus bescheidenen sozialen Verhältnissen Rio de Janeiros, der neben seinem Portugiesisch auch Englisch & Französisch sprach & las, ist bis heute wohl aber auch der größte Autor des Landes geblieben. Sein Roman “Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas” gehört zu den originellsten Büchern der gesamten Weltliteratur & liegt schon einige Jahre auf Deutsch bei Manesse vor.
Nun hat der Verlag mit seinen schönen handlichen Kleinformaten auch “Dom Casmurro” (in der Übersetzung Marianne Gareis´) als Hommage an den Länderschwerpunkt Brasilien der diesjährigen Buchmesse vorgelegt; und wer als Leser literarisches Raffinement, Hintersinn & das Spiel des Autors mit seinem Stoff wie mit seinen Lesern schätzt & liebt, wird unter der Hand seiner Lektüre von der Eloquenz & Intelligenz des Brasilianers begeistert sein.
Der Mitte des 19. Jahrhunderts in Rio spielende Roman ist im gleichen Jahr wie Joseph Conrads “Herz der Finsternis” erschienen. Während der Englisch schreibende Pole durch seine grandiose Abrechnung mit dem (belgischen) Kolonialismus weltberühmt wurde, ist der Brasilianer bislang nur zum einheimischen Klassiker geworden. Mit Joseph Conrad teilt er den existenziellen Pessimismus & die Ambiguität seiner Erzählweise, die sich in der Ironie offenbart, mit der er seinen Erzähler zum Autor macht, der sich selbst versichert, er wisse, wie sein Leben – vor allem seine Liebe & Ehe mit Capitu – verlaufen sei & warum er Grund hat, jener einsame Eigenbrötler zu sein, als der er von seiner Mitwelt offenbar wahrgenommen wird.
Auf schwankendem Boden
Der Roman “Dom Casmurro” entfaltet aber seinen ganzen literarischen Reiz & seine psychologische Tiefenansicht, wenn man dem Autor Machado de Assis mehr zutraut als seinem Selberlebensbeschreiber: nämlich uns Lesern derart raffiniert literarisch aufzuspielen, dass wir uns auf schwankendem Boden befinden, wenn wir dem “Eigenbrötler” lesend zu dessen vermeintlich authentischer Auto-Biographie folgen. Allein schon, dass er sie als Roman aufschreibt & deren 148 Kapitel wie Schubladen benutzt, in denen er Portionen seines Lebens (oder manchmal auch Anekdoten oder Meinungen, die gar nichts da zu suchen haben) in ihnen säuberlich ablegt, sollte einen stutzig machen – und einen auch daran erinnern, dass schließlich Laurence Sterne zu den literarischen Hausgöttern Machado de Assis´ gehörte.
Von dem Yorkshire-Pfarrer hat der Brasilianer auch seine häufigen, oft unerwarteten Ansprachen an den Leser – oder auch die Leserin, die einmal sogar aufgefordert wird, nicht weiterzulesen. Und zwar dann, wenn Dom Casmurro damit herausrückt, dass er seiner geliebten Ehefrau Capitu vorwirft, ihr Sohn Ezequiel sei ein “Kuckucksei“, das sein bester Freund Escobar als Erzeuger zum Vater habe.
Je älter das einzige Kind seiner lange fruchtlos gebliebenen Ehe wird, desto mehr gleicht dieser Ezequiel physiognomisch & gestisch dem besten Freund Escobars, mit dem er einst auf dem Priesterseminar war – bevor beide in die rasant expandierende Welt des städtischen Bürgertums in Rio neben einander & in engstem freundschaftlichem Kontakt & Umgang Karriere machten. Escobar war es auch, der auf den Trick kam, mit dem Bentino dem drohenden Schicksal eines Priesters entkam, für das ihn seine früh verwitwete Mutter, bigott wie sie war, bestimmt hatte. Dabei hatten sich die Nachbarskinder Bentino & Capitu von früh auf geliebt & sich einander heimlich versprochen, was zumindest Capitus Vater sehr recht war, weil er nicht so vermögend war wie die nachbarliche Frühwitwe – der Ländereien, Häuser & auch einige Sklaven (!) gehörten. Lakonisch werden diese Besitzrechte von Benitos ”engelgleicher” Mutter erwähnt: die Sklaverei wurde in Brasilien erst nach den Roman-Ereignissen abgeschafft & besteht gleichwohl im Ökonomischen rassistisch bis heute fort.
Zumindest konnte man als gewiefter Leser der Roman-Aufzeichnungen des alten Griesgrams derlei Interesse von Capitus Vater an der Verheiratung seiner Tochter mit dem reichen Nachbarsjungen entnehmen, obwohl sich Benito gar nicht bewusst zu sein schien, dass er seinem Schwiegervater dieses Motiv unterstellt.
Aber man sollte diesem allzu selbst gewissen Ideologen seiner selbst nie übern (erzählerischen) Weg trauen, wenn man sich vorstellen will, was möglicherweise wirklich geschehen ist – jenseits dessen, was der vereinsamte Alte rückblickend für sich selbst behauptet.
Wie sehr er von seinem “ab ovo” dabei ausgeht, deutet bereits der Anfang an. Er hat sich nämlich, das mittlerweile zerstörte Haus seiner Kindheit haargenau andernorts rekonstruieren lassen. Darin sitzt er nun als “Beschwörer seines Imperfekts” (Th. Mann), um sich mit seinen Aufzeichnungen auf seine Suche nach der verlorenen Zeit seines gelebten Lebens zu machen.
Denn seine Eifersucht hat, nachdem sein Betrugs-Verdacht ihm immer sichtbarer vor Augen gekommen war (& er sogar einen Mordversuch an dem Sohn dem Leser eingestanden hat), dazu geführt, dass er die geliebte, standhaft leugnende Capitu mitsamt Ezequiel nach Europa geschickt hatte, wo beide mittlerweile gestorben sind. Ebenso tot ist der einstige engste Freund Escobar, der sich bei heftigem Sturm ins Meer begeben hatte: aus dem Übermut des sportlichen Schwimmers oder mit Selbstmordabsichten?
In den Gefilden von Zweifel & Misstrauen
Zumindest letzteres nimmt Benito, i.e. Dom Casmurro, nicht an. Aber “der Leser” oder “die Leserin” könnte sich das so zusammenreimen, wie man überhaupt sich bei diesem “postmodernen“ Roman-ante-rem in den Gefilden von Zweifel & Misstrauen bewegt wie einst im “Nouveau roman“ des frühen Robbe-Grillet.
Die Frage, ob Dom Cusmurro recht hat mit seinem Ehebruchsverdacht, hat seit Erscheinen des Romans seine Leser beschäftigt. Machado de Assis hat es ihnen nicht einfach gemacht, so dass man keine eindeutigen Fährten & Indizien für die rasende Eifersucht des Selberlebensbeschreibers ausmachen kann – außer den ja doch ziemlich augenfälligen physischen Ähnlichkeiten Ezequiels mit Escobar & dem Faktum, dass Capitu & Escobar Benito schon einmal etwas verheimlicht, also hinter seinem Rücken konspiriert hatten.
Und wenn der Sohn ein “Freundesdienst” gewesen wäre, zu dem sich Capitu & Escobar zusammengetan haben, damit Benitos wahnsinnige “Sehnsucht nach einem Sohn” gestillt & seine Ehe, trotz seiner ebenso offenkundigen wie verdrängten physischen Unfruchtbarkeit, geglückt erscheinen würde?
Ich weiß nicht, ob diese pervers-sublime Volte, die mir jedoch denkbar scheint, schon einmal von einem Leser in Erwägung gezogen worden ist. Sie würde diesem außerordentlich eloquenten & geheimnisvollen Roman den wahrhaft sonoren Klang einer abgründigen literarischen Musik voller schneidender Ironie beigeben. Wenn man von diesem brasilianischen Meister einerseits Sterne beerbt sieht, so könnte dann auch der zeitgenössische französische Bourgeoishasser Flaubert an der Wiege von Machado de Assis´ fabulösem Roman “Dom Casmurro” gestanden haben. Es wäre gewissermaßen die literarische Quadratur des Kreises. Ein solches Kunststück traue ich ihm aber zu.
Wolfram Schütte
Joaquim Maria Machado de Assis: Dom Casmurro. Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis. Nachwort von Kersten Knipp. Manesse-Verlag, Zürich 2013. 445 Seiten. 22.95 Euro.