Geschrieben am 6. Dezember 2014 von für Bücher, Crimemag

Jörg Hadermann, Hans Issler, Auguste Zurkinden: Die nukleare Entsorgung in der Schweiz 1945–2006

Nuklear Entsorgung gross4Die wirklich unendliche Geschichte – Atommüll

– Alf Mayer zum Thema und zum Buch „Die nukleare Entsorgung in der Schweiz 1945–2006“.

Atommüll, auch als Thrillertreibstoff; die gesellschaftliche Unverantwortlichkeit der Atomwirtschaft, die Augsburger Allgemeine, Robert Jungk, Günther Anders und das prometheische Gefälle, die Schweiz, der Buchverlag der Neuen Zürcher Zeitung und ganz am Ende die Mafia sind die Stationen dieses Artikels. Ein Gefahrenzeitraum von einer Million Jahren – für eine keine hundert Erdenjahre genutzte Energieform, das muss den Menschen erst mal eine Spezies nachmachen. Dies ist der Stoff, aus dem noch viele Thriller entstehen, wenn die Halbwertszeiten anderer Themen und Plots längst vergangen und vergessen sind. Seit vielen Jahren wundere ich mich, welch ein Schattendasein die Endlagerung von atomarem Abfall in der allgemeinen Wahrnehmung führt. Atommüll? Nein danke, ich mache mir darüber keine Gedanken. Wird schon gut gehen.

Rostende Fässer, verdoppelter Müll

Vor 37 Jahren war das schon einmal virulenter. Da erschien in der Zeit der Proteste gegen den Bau des Atomkraftwerks Brokdorf ein heute vergessenes Buch und prägte den Begriff „Atomstaat“. Die Virulenz der darin aufgestellten These gilt unverändert. Dass sie abgeklungen und das Thema harmlos geworden zu sein scheint, zeigt den Zustand der allgemeinen Hirnwäsche ebenso wie die Macht unserer eigenen, freiwilligen und kollektiven Verdrängungsleistung.

Rostende Atomfässer? Aha. Viel mehr, als man wusste? Na gut. Keine Woche hielten sich Mitte November 2014 Meldungen von Schäden an Atommüll-Fässern in den deutschen Medien. Es schlug auch nicht zu öffentlich aufgeregtem Buche, dass sich bei einer aktuellen Zählung die Menge des bislang in der Bundesrepublik gelagerten Atommülls plötzlich VERDOPPELTE. Bisher waren die in Forschungseinrichtungen gelagerten Strahlebehälter als „Wertstoffe“ geführt gewesen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Ein weiteres Detail aus dieser Novemberwoche, die es über Meldungsgröße in dieser Sache nicht hinausbrachte, FAZ vom 19.11.2014: Auf dem Gelände des ehemaligen Kernforschungszentrums Karlsruhe in Eggenstein-Leopoldshafen lagern derzeit 1682 korrodierte Fässer. Die dortige „Hauptabteilung Dekontaminationsbetriebe“ (HDB) hat insgesamt 65.000 Fässer mit schwach und mittelradioaktiven Abfällen vor Ort, was sind da schon 1682 undichte? Der Probebetrieb in der Karlsruher Wiederaufbereitungsanlage wurde 1991 eingestellt, die Dekontaminierung – Entgiftung von Radioaktivität ist hier gemeint, nicht ein einfaches Abduschen – wird sich bis zum Jahr 2063 hinziehen. Jährliche Kosten: 45 Millionen Euro. Von 1991 bis 2063 macht das mindestens 3.240 Milliarden Euro. 3,2 Billionen. Atom-Altlasten werden generell teuer, irgendwie fällt das aber immer durch unsere Wahrnehmungssiebe.

Betrifft gerade 0,1 Prozent des anfallenden Abfalls

13.000 der Karlsruher Fässer entsprechen nicht den Vorschriften, um sie später im Schacht Konrad einlagern zu können – auch so ein Schwarzes Loch mit Wahnsinnskosten. Bei 2,9 Milliarden Euro liegen die derzeitigen Gestehungskosten der angeblich ab 2022 möglichen Endlagerung in diesem Bergwerk. Es wird zum Endlager für „radioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung“ umgebaut. Zu dieser Kategorie werden rund 90 Prozent der in Deutschland anfallenden radioaktiven Abfälle gerechnet, sie beinhalten aber nur etwa 0,1 Prozent der gesamten Radioaktivität allen Abfalls. Und die restlichen 99,9 Prozent? Von denen hört man nichts. Hat ja auch noch 100.000 Jahre Zeit. Nehmen wir die Schacht-Konrad-Kosten und multiplizieren sie mit den restlichen 99,9 Prozent, sind wir bei 3.000 Milliarden Euro, den Rückbau der weltweit 434 Kernkraftwerke erst einmal beiseitegelassen. Und da redet man ungestraft von „billigem“ Atomstrom? Gehirnwäsche, sage ich nur.

Robert Jungks „Atomstaat“

Ohne jedes Aufheben stand in eben dieser 15-Zentimeter-Meldung der FAZ zu diesem Thema folgender letzter Satz: „Tatsächlich ist bisher kein einziger Abfallbehälter in Karlsruhe so vorbereitet, dass er in Konrad eingelagert werden kann.“ Im Wirtschaftsteil der FAZ fand und findet sich zum – durch die verrosteten Fässer und die nun eingestandene Verdopplung der Müllmenge – eigentlich wieder brandaktuellen Thema der atomaren Endlagerung in diesen Wochen nicht ein einziger Artikel. Wirtschaftlich, muss man daraus folgern, ist dieses Thema ohne sonderlichen Belang. Nur, wenn zum Beispiel Vattenfall wegen der erzwungenen Abschaltung mehrerer Atomkraftwerke nach dem Atomunfall von Fukushima fünf Milliarden Euro Schadensersatz fordert, steht das in den Blättern.
Robert Jungk und sein „Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ aus dem Jahr 1977 sind vergessen.

Jungk, der sich schon früh mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie beschäftigt hatte und später vor dem deren „lebensfeindlichen Charakter“ warnte, stellte sich und den Lesern die einleuchtende Frage, WIE man denn angesichts der unvorstellbar lange andauernden Giftigkeit der Atomenergiematerialien diese sicher vor Feinden und Terroristen verwahren könne. Welcher Form von Sicherheit und damit welcher Form von Gesellschaft es für eine absolut sichere Lagerung des ewig strahlenden Kernmaterials bedürfe. Für Jungk war es „der Atomstaat“, der den Schutz des gefährlichen Kernmaterials über alles und auch über jede Demokratie-Idee stellen werde und stellen müsse. Damals hatte es die Bundesrepublik mit den Terroranschlägen der Rote Armee Fraktion (RAF) zu tun, der „faschistische Staat“ trat manche Wohnungstür ein, im Namen der „Inneren Sicherheit“.

Die unauslöschliche Giftspur

Jungks These, dass es unvorstellbar viel mehr an Innerer Sicherheit zur missbrauchs- und unfallfreien Lagerung von Atommüll brauche, war ebenso einleuchtend wie skandalös. Hier Jungk im Original:

„Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn ‚Atome für den Frieden‘ unterscheiden sich prinzipiell nicht von ‚Atomen für den Krieg‘. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie. Die Bemühungen, diese Risiken zu beherrschen, können die Gefährdungen nur zu einem Teil steuern. Selbst die Befürworter müssen zugeben, dass es niemals gelingen wird, sie ganz auszuschließen. Der je nach Einstellung als kleiner oder größer anzustehende Rest von Unsicherheit birgt unter Umständen solch immenses Unheil, dass jeder bis dahin vielleicht gewonnene Nutzen daneben verblassen muss.“

Jungk weiter: „Dieser Griff in die Zukunft, die Angst vor den Folgeschäden der außer Kontrolle geratenen Kernkraft wird zur größten denkbaren Belastung der Menschheit: sei es als Giftspur, die unauslöschlich bleibt, sei es auch nur als Schatten einer Sorge, die niemals weichen wird.“ Sein Buch sei „in Angst und Zorn geschrieben: In Angst um den drohenden Verlust von Freiheit und Menschlichkeit. In Zorn gegen jene, die bereit sind, diese höchsten Güter für Gewinn und Konsum aufzugeben.“

Viele würden meinen, kritisierte Jungk, über Technologien müsse ohne Emotionen gesprochen werden. Doch das heiße nichts anderes als das alte „Ruhe ist erste Bürgerpflicht“. Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutoniumszukunft mit sich bringen muss, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet, wirkt für Jungk an ihrer Verharmlosung mit“.

Anders AntiquiertheitjpgGünther Anders und das „prometheische Gefälle“

Robert Jungk konkretisierte, was vor ihm der Philosoph Günter Anders in seiner 1956 erschienenen, bis heute unverändert lesenswerten „Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution“ durchdekliniert hatte, indem er die Monstrosität der Atomtechnologie sowie der Atombombe aufzeigte. Weil sie das menschliche Kontrollvermögen übersteigt, kann sie zur Selbstauslöschung der Menschheit führen, warnte er. Während des gesamten Kalten Krieges, von den Fünfzigern bis in die späten 1980er hatte übrigens alleine das amerikanische Strategic Air Command (SAC) jede Sekunde dieser 35 Jahre mindestens fünf Langstreckenbomber in der Luft, von denen jeder alleine in der Lage gewesen wäre, mit seiner A-Bombenlast die Erde auszulöschen.

Als „prometheisches Gefälle“ bezeichnete Günther Anders den im Zeitalter permanenter technologischer Revolutionen dramatisch vergrößerten Abstand zwischen den Menschen und ihren Produkten, denen der Mensch nicht mehr Herr wird. Anders war erfüllt von einer Humanität, die dem Schrecken und den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges ein „Nie wieder!“ entgegensetzte und doch fürchtete, dass der Mensch seinen Errungenschaften nie mehr wieder gewachsen sei. Gutgläubigkeit galt ihm als keine Sicherheit. Anders sah auch die Angestellten von Auschwitz als eine Art von Maschinenteilen, die ihre eigene Legitimation aus Befehlen, aus dem Funktionieren des Apparats, seinen Regelwerken und Abläufen bezogen hatten, weil sie, mit Spezialaufgaben betraut, das Ausmaß und die Folgen ihres Tuns nicht zu übersehen vermochten – und brauchten: „Der Angestellte im Vernichtungslager hat nicht gehandelt, sondern, so grässlich es klingt, er hat gearbeitet.

Anders fürchtete, dass sich ähnliche Zivilisationszerstörerisches durchaus wiederholen könnte: „Je schärfer das Tempo des Fortschritts, je größer die Effekte unserer Produktion und je verwickelter die Struktur unserer Apparate – umso rapider verlieren unsere Vorstellung und unsere Wahrnehmung ihre Kraft, Schritt zu halten.“ Mir bläute er für immer eine gehörige Skepsis vor dem Fachmann ein. An die aber, an die Spezialisten, haben wir unsere Welt längst delegiert. Frau Merkel zeigt uns das oft bei ihren Fachbesuchen in irgendwelchen Labors oder Fabriken: jenes die eigene Ahnungslosigkeit übertünchende höfliche „Ahh so“ und „Prima“ und „Machen’se mal!“

Die Börse_NZZAutobiografischer Exkurs in Sachen Atommüll

Mein Schlüsselerlebnis in Sachen Atommüll trug sich 1977 zu. Ein Atomkraftwerk hatte ich als ein auf Sabotage trainierter Einzelkämpfer der Bundeswehr bereits von innen gesehen und nicht nur die unter Wasser gleißend blau ausgeleuchteten Brennstäbe im Abklingbecken als Eindruck behalten. Nun war ich Journalist bei der Augsburger Allgemeinen, der Jüngste in der Politikredaktion, wo damals gleich zwei Redakteure pro Woche in München waren, um in der Parteizentrale der CSU Schafkopf zu spielen, wie wir die Befehlsausgabe dort nannten. Als ich für das „Interview des Tages“ einen Karlsruher Kernforscher zu einer AP-Meldung befragen sollte, nach der die Sowjetunion einen Atomunfall hinter dem Ural vertuscht haben sollte, knurrte der: „Was fragen Sie mich für einen Mist! Schauen Sie sich lieber mal die Bundestagsdrucksache XYZXYZXYZ an!“ Die forderte ich an, es war das Protokoll einer „Öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission Zukünftige Kernenergiepolitik“ zur Frage der Endlagerung des atomaren Abfalls. Eingeladen und freimütig redend, die Spitzen der deutschen Atomwirtschaft und Atomforschung. Sie alle, ausnahmslos, schwärmten von den wunderbaren Möglichkeiten der Kernenergie.

Zum Thema Atomabfall befragt, verwiesen sie darauf, dass für die Endlagerung angesichts von Halbwertszeiten, die 100.000 Jahre übersteigen, nun wirklich noch viel Zeit wäre und dass der technische Fortschritt doch immer schon Lösungen gefunden habe. In Schweden würde man bereits mit dem Einschluss von Atommüll in Glas experimentieren, in den USA gäbe es gewaltige leere Landschaften, die Sowjetunion wolle den Atommüll dereinst ins All schießen. Kurzum: Lösungen werde es rechtzeitig geben und zwar genug, so dass man sie sich aussuchen könne. Aber es stand da eben auch – so las ich das alles: Keiner hatte irgendeine Ahnung. Niemand. Null.

Das alles in wörtlichen Aussageprotokollen. Die Anhörung war öffentlich gewesen, nur hatte niemand darüber berichtet, weil das Thema wohl niemanden interessierte. Beste journalistische Quellenlage also. Ein Exklusivstoff.

Ich baute einen Bericht. Es wurde fast eine Zeitungsseite, mit Kästen und Erläuterungen, alles lesbar aufbereitet. Aber die Seite erschien nicht. Sie wurde blockiert. Von den CSU-Schafkopfern und vom Chefreporter. Es gab einen Showdown in der Großen Konferenz, ich hatte die besseren Argumente und Unterstützer. Bis der Chefreporter ausholte. Er komme gerade aus Gorleben, wo der Atommüll gelagert werden solle. Der schwach radioaktive aber nur, warf ich ein. Wenn Blicke töten könnten. Ach was, rief er aus. Das ist Atommüll. Und wisst ihr, wie viel Angst ich davor habe? So viel! Zog einen Salzbrocken aus der Jackentasche, den habe ich selber im Salzbergwerk abgeschlagen, und leckte ihn ab. Er sei im Krieg gewesen, Jagdflieger, und wisse, was Angst sei. Atommüll jedenfalls mache ihm keine, das sei ein Problem dieser jungen Memmen. Das Thema war damit gestorben bei der „Augsburger“. Ich verkaufte meine Informationen an den Spiegel, der drei Monate später mit Atomfässern aufmachte. Dann erschien Robert Jungks „Atomstaat“. Nein, ich mache mich damit keineswegs zu einem Zellkern, aber es macht etwas vom Unterirdischen dieses Themas klar.

Ingenieure Band 2Kein Fortschritt seit den 1970erm

Seit den 1970er Jahren hat sich in Sachen Endlagerung des Atommülls nichts wirklich Entscheidendes getan. (Ich weiß, die Schweizer werden mit widersprechen.) Die hochradioaktiven Brennstäbe werden „wiederaufbereitet“ und ausgelutscht, ganze und halbe Schurkenstaaten horten Plutonium für eventuelle Bomben und „erforschen“ seine Anreicherung. Noch gab es keinen massiven Terroranschlag in Verbindung mit Radioaktivität, vermutlich ist das aber nur eine Frage der Zeit. In der Fiktion wird das alles längst vorweg genommen. Eine einschlägige Literaturliste wäre eine sinnvolle Aufgabe für Literaturseminare. Das Kino verzeichnet mit dem Fortschritt der computergestützten Animation (CGI) geradezu eine Inflation von Atompilzen. Die meisten von ihnen sind nette, dekorative Pilzwölkchen am Abendhimmel oder sie verleihen einem feschen Mutanten wie Hugh Jackman als Wolverine damals in Nagasaki erst seine übernatürlichen Kräfte.
Für eine nüchterne, down-to-earth-Betrachtung der Sache müssen wir in die Schweiz. Dort heißt es 2014 zum Thema: „Wie die Isolation dieser Abfälle von der Biosphäre über lange Zeiträume gewährleistet werden kann, war – und ist heute noch – Gegenstand umfangreicher Abklärungen. Neuartig sind vor allem die Zeitskalen, über die eine solche Isolation nachzuweisen ist. Zu Beginn der Nutzung der Kernenergie lag der Fokus auf einigen hundert Jahren, während deren der Großteil der Toxität zerfallen ist. Heute zieht man für die Isolation der hochaktiven Abfälle einen Zeitraum von einer Million Jahren in Betracht.“

Noch eine Million Jahre – mindestens

Ein Gefahrenzeitraum von einer Million Jahren – für eine letztlich keine hundert Erdenjahre genutzte Energieform, das muss den Menschen erst mal eine Spezies nachmachen. Das Zitat im obigen Absatz stammt aus dem Buch „Die nukleare Entsorgung in der Schweiz 1945 – 2006. Von den Anfängen bis zum Entsorgungsnachweis“ und ist die allgemeinverständliche, von vier namhaften Wissenschaftlern und Technikern verfasste Zusammenfassung einer großen Studie. Erschienen ist das informative, spannende und über ein Lesebändchen hinaus mit vielen Abbildungen, Illustrationen und Infografiken ausgestattete Buch im Verlag Neue Zürcher Zeitung. In deutschen Sprachen sucht sich Vergleichbares vergeblich. Unaufgeregt und nüchtern, nichtsdestoweniger ungeschminkt und präzise wird hier über ein Thema aufgeklärt, das wir alle – geschlagen von der Antiquiertheit der Menschen, wie Günter Anders das schon kurze Zeit nach der Atombombe von Hiroshima nannte – an die Fachleute delegiert haben. Als ob es uns nicht richtig etwas anginge und als ob Castor-Behälter das schon irgendwie auf immer bei sich behalten könnten.
Gewiss ist manches in diesem gewichtigen Sachbuch auch gegen den Strich zu lesen oder eben als Ingenieursleistung zu bewundern. Hans Issler, einer der drei Hauptautoren, war von 1988 bis 2008 Präsident der Nagra, der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle. (Ja, auch dafür haben die Schweizer eine Genossenschaft. In der Bundesrepublik blieben die Ansinnen der Atomindustrie bislang erfolglos, die Entsorgung doch vollends in einer Stiftung öffentlichen Rechts und staatlicher Finanzierung abzuladen – wobei die Gemeinkosten für die Atommüllagerung längst in die zweistelligen Milliardenbeträge gehen.)

Ingenieure bauen die SchweizDer Buchverlag der Neuen Zürcher – NZZ Libro

Der Buchverlag der FAZ, der vor etlichen Jahren kurz mit Enzensbergers Anderer Bibliothek liebäugelte, hat es bislang – mit Verlaub – über Managementbücher hinaus nicht zu sonderlich breiterem Aufsehen gebracht. Allerlei Führungsmethoden oder wie man eine Pressemeldung schreibt, das lässt sich dort aus Büchern lernen, die Jubiläumskassette der FAZ-Karikaturisten Greser & Lenz ist vermutlich der populärste Titel oder der Sammelband der FAS-Kolumnistin Bettina Weiguny („Her mit der ersten Million!“). Den Zeitungsverlag der Neuen Zürcher Zeitung gibt es seit 1927. Anfangs ging es vor allem um Nachdrucke von Artikelserien mit einem über den Tag hinaus reichenden Aktualitätswert. Das Verlagsinteresse war eher ein publizistischen denn ein kommerzielles. Die ab 1968 herausgegebenen „NZZ-Schriften zur Zeit“ brachten es auf 45 Nummern. Die eher zurückhaltende Verlagspolitik zeigt sich in der Gesamtheit von nur 200 Titeln von den Anfängen bis 1970.

Erstmals einen vollamtlichen Leiter gab es 1980, als der Buchverlag in ein Profitcenter umgewandelt wurde. Seit Januar 2006 heißt der Buchverlag NZZ Libro und gesellt sich zu den Marken NZZ Folio, NZZ Format, NZZ Film und NZZ Print.
Heute verlegt NZZ Libro neben Fachbüchern immer mehr Sachbücher für ein breiteres Publikum und hat sich als bedeutende Stimme im Schweizer Verlagswesen etabliert. Pro Jahr erscheinen über 60 neue Titel. Darunter sind kulturgeschichtliche und aktuelle politische Themen, Wirtschaftsbücher, Biografien und Bildbände und manch verdienstvolle, aber wenig Geld bringende Projekte wie die Gesamtausgabe des Johann Caspar Lavater. Hier geht es zur Besprechung eines Kriminalromans von Dominik Bernet, der den „Vater der Gesichtserkennung“ zur Hauptfigur hat.

Um die FAZ noch einmal zu piksen: Eines der pfiffigsten Wirtschaftsbücher der letzten Jahre ist für mich das mit Gummiband und Kartenspiel kommende NZZ-Libro-Buch „Die Börse“. Herausgegeben von der SIX Swiss Exchange AG, ist dies eine fundiert unterhaltsame, unkonventionelle Selbstdarstellung, technisch und ästhetisch auf dem Höchststand all dessen, was heutzutage in Jahresberichten prosperierender Firmen aufgefahren wird – die NZZ hat auch auf diesem Gebiet ein Achtung gebietendes Geschäftsfeld und viel gestalterisches und redaktionelles Know-how.
Wer Ingenieure in seiner Familie hat, würde Augen leuchten sehen angesichts des zweibändigen NZZ-Buch-Werkes „Ingenieure bauen die Schweiz. Technikgeschichte aus erster Hand“ (Band 1, Band 2), das viele heute verschwundene große Firmen, Pionierleistungen, Produkte und Entwicklungen rekapituliert. Firmen wie Brown Boveri, Saurer, Sulzer, Rieter, Wild Leitz, Landis+Gyr werden porträtiert, es geht um Rotations- und Kolbenmaschinen, Produktionstechnik, Infrastrukturbauten, Land- und Luftfahrzeugbau, Optik- und Uhrenindustrie und die typisch schweizerische duale Ingenieurausbildung.

Um auf den Atommüll als Stoff für Kriminalromane zurückzukommen. Bei einem Gespräch am Stand von NNZ-Libro während der Buchmesse über das Thema fiel von Schweizer Seite wie zwangsläufig ein Satz des Sinnes: Bei der Entsorgung von Atommüll ist ja – nicht nur in Italien – die Mafia groß und global im Geschäft. Robert Soviano hat das in seiner Recherche „Gomorrha“ zum Thema gemacht. Verstärkte Anzeichen gibt es für Kooperation mit den chinesischen Triaden.

Alf Mayer

Jörg Hadermann, Hans Issler, Auguste Zurkinden: Die nukleare Entsorgung in der Schweiz 1945–2006. Von den Anfängen bis zum Entsorgungsnachweis. Gesamtredaktion: Andreas Pritzker. Verlag Neue Zürcher Zeitung NZZ Libro, Zürich 2014. 200 Seiten, 74 Illustrationen. 200 Seiten, gebunden. 38 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Weitere NZZ-Libro-Bücher:
SIX Swiss Exchange AG (Hg.): Die Börse. 214 Seiten, 100 Illustrationen. Zürich 2013. 42 Euro.
Ingenieure bauen die Schweiz. Band 1 (526 Seiten, 185 Illustrationen, 58 Euro) und Band 2 (450 Seiten, 150 Illustrationen, 58 Euro). Im Set 98 Euro.

Tags : , , , ,